Das verborgene Spiel

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"Die Leiche wurde nie gefunden."

Dieser Satz hallte Oliver immer wieder im Kopf während er noch vor dem Schreibtisch mit dem Computer saß. James wurde nie gefunden. Oliver sprang auf. "Del Norte", dachte er hastig. "Del Norte, ich muss unbedingt dahin." James letzte Worte zu Oliver hatten was mit Del Norte zutun gehabt. Zeit zu packen nahm Oliver sich nicht. Er nahm nur die wichtigsten Dinge, die er zum reisen brauchte mit und eine Jacke. "Bitte sei dort, bitte sei dort und nicht tot", dachte er verzweifelt, aber ebenso hoffnungsvoll. Es wäre schrecklich, ja grausam von James Oliver so einen Brief zu hinterlassen. Einen Brief in dem so viel Hoffnung steckte. Pericles hatte seinen eigenen Tod vorgetäuscht, dies wusste Oliver und dies wusste ebenso James.

In Del Norte angekommen wusste Oliver wieder die genauen Wege, die James und er während ihres Ausflugs dorthin genommen hatten. "Er muss am Strand sein", dachte Oliver, aber war sich auch bewusst mit welcher Unwahrscheinlichkeit diese Annahme zutreffen würde. James habe ja nicht Jahre lang seine Zeit nur an der Küste Del Nortes befinden können. Das wäre rein menschlich unmöglich. Er stolperte trotzdem den Strand hinunter. Eine Brise fuhr ihm durchs kurze Haar und er schloss die Augen um sich vorzustellen, es wären James sanfte Finger, die ihn streichelten. Insgeheim hatte er die Hoffnung wohl doch schon aufgegeben. Warum würde James seinen Tod vortäuschen? Sich aus Schuldgefühlen umzubringen, weil er verrückt geworden war, das passte schon eher. Oliver seuftzte: "Bitte nicht."

Er kam an den Strand, wo James und er nackt gelegen hatten, nachdem sie nachts schwimmen gewesen waren und auf irgendeine merkwürdige Weise ihre Kleider verschwunden waren. Ihm kam das ungeheure Bedürfnis sich in den Sand zu legen und so tat er es und legte sich auf den Rücken. Er schaute in den Himmel. Die Sonne war bereits lange verschwunden und der Mond, ein voller Mond, stand über ihm am Himmel, da Olivers kurzfristiger Trip zur Küste Del Nortes viel Zeit beansprucht hatte. Die Zeit war Oliver aber egal gewesen. Auch wenn James nie auftauchen würde, musste er an diesen Ort zurückkehren. Er dachte an den Tag, an dem James auf einmal vor der Haustür seines Familienhauses aufgetaucht war, sichtlich unruhig wegen den Umständen, die Richards Tod mit sich gebracht hatten, und sie zusammen in einem Bett geschlafen hatten und Oliver am nächsten Morgen aufgewacht war, um James Gesicht dicht an seiner Schulter zu finden und ihn leise und rhythmisch atmen zu hören. Er schloss wieder die Augen und malte sich aus wie James neben ihm im Sand lag. Die Vorstellung überlappte sich mit jener, in der die beiden Freunde wirklich hier zusammen gelegen hatten. Splitternackt nach dem schwimmen im kalten Wasser, viel zu betrunken war Oliver gewesen, um sich an genaue Details zu erinnern, aber er sah James scharf und klar vor sich, eine Gestalt, wie Richard, die immer wieder vor ihm auftauchte und mit ihm sprach und aus deren Mündern Rätsel gesprochen wurden, die Oliver halb, manchmal aber auch gar nicht verstand. Die Wellen schienen lauter zu werden und Oliver ballte die Fäuste im Sand, sodass die feinen Körner ihm aus den Ballen quollen. "Wo bist du?", dachte er und eine Träne lief ihm aus dem rechten Auge über seine Wange in den Sand. Der Wind, der ihm über die Haut streifte, genügte nicht mehr, damit Oliver sich nicht komplett in seiner Einsamkeit verlor. Das Gefühl der Leere überschlug ihn. Die ganze Gefängniszeit hatte er an James gedacht, daran ihn wiederzusehen. Die Sehnsucht nach seinen grau-goldenen Augen war so groß wie nie zuvor. Er wünschte sich, Filippa wäre bei ihm, um ihn zu trösten und ihn in den Arm zu nehmen. Herr Gott, er wünschte sich sogar für einen kurzen Moment Meredith herbei, um durch sie James für einen viel zu kurzen Zeitraum wieder vergessen zu können, naja, nicht vergessen, das ginge wohl nie, aber einfach um sich abzulenken. "Ist er vielleicht bei Wren?",  dachte Oliver unnötiger- und schmerzhafterweise. Sind beide abgetaucht, führen ein Leben im Privaten und haben ihn links liegen lassen? Nachdem er all die Schuld von Richards Tod auf sich genommen hatte? Nein, das konnte nicht sein. So war James nicht. So war er einfach nicht. Oliver lief eine zweite Träne aus dem Auge, diesmal aus dem anderen. Sie rann seine Wange hinunter und am nächsten Morgen, als Oliver immer noch an gleicher Stelle im Sand lag, war sie getrocknet. Oliver hatte geschlafen und blickte nun wieder die Sonne an, die gerade erst den Mond von seiner Tour über den Himmel abgelöst hatte.

If we were loversWhere stories live. Discover now