Kapitel 1 - Was denken Sie denn?

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Das fremde Gedankenlabyrinth

Kapitel 1.

"Was denken Sie denn?". Mit dieser Frage riss mich meine Mutter wieder aus meinen eigenen Gedanken. Ich zuckte nur einmal kurz mit den Schultern und kehrte ihr im selben Augenblick den Rücken zu, um mich dem Arzt wieder zuzuwenden. Meine Mutter liebte es zu diskutieren. Manchmal hatte ich das Gefühl sie wurde extra geboren um pausenlos sinnlose Diskussionen zu führen. Der Arzt schüttelte mit seinem Kopf, ehe er meiner Mutter ein Haufen Papier in die Hand drückte und durch seinen ziemlich ungepflegten, ungekämmten Bart "Einmal durchlesen und bei der netten Dame an der Rezeption abgeben" murmelte. Ich setzte mich mit meiner Mutter ins Wartezimmer. Du fragst dich sicherlich wo ich mich gerade befinde. Arzt. Krankenhaus. Papiere durchlesen. Das ist alles ganz normal für mich. Jeden Monat mindestens einmal. Und jeden Monat aufs Neue fiel mir auf, wie nervös meine Mutter dort auf dem Stuhl sitzt und versucht es sich nicht anmerken zu lassen. Jeden Monat aufs Neue hatte ich tausend Fragen im Kopf, auf die ich wohl nie eine Antwort bekommen würde.

Als ich geboren wurde, musste ich eine Zeit lang im Krankenhaus bleiben. Als Baby denkt man sich ja nichts dabei - wenn man da überhaupt schon denken kann. Doch irgendwas an mir war in diesem Alter bereits anders als bei allen anderen Neugeborenen. Im Kindergarten hatte ich das als "wirres Zeug in meinem Kopf" abgestempelt. Jedes Mal, wenn ich in der Nähe eines anderen Kindes war, hörte ich Stimmen in meinem Kopf. Stimmen, die mir erzählten, was dieses Kind genau in diesem Moment denkt. Das habe ich niemandem so wirklich erzählt. Wie soll ich das auch nur erzählen? "Mama, ich kann Gedanken hören" oder "Mama, ich höre Stimmen in meinem Kopf" - Nein, das ging so nicht. Also behielt ich es für mich. Mein kleines Gedanken-Geheimnis. Nicht einmal meine beste Freundin Mariella wusste davon. Sie hätte mich auch für völlig verrückt gehalten. Wir sind seit dem Kindergarten ein Herz und eine Seele. Nichts konnte uns auseinanderbringen, nicht einmal die nervigen Typen aus unserer Stufe.

Meine Mutter füllte die Unterlagen in Höchstgeschwindigkeit aus, griff nach meiner Hand und zog mich mit zur Rezeption. Dort erblickte ich auch wieder den Arzt. Er unterhielt sich aufgeregt mit einer kleinen, blonden (mit einem leichten Gelbstich, wahrscheinlich nicht gut gefärbt) Krankenschwester. Als ich meinen Namen und das, was er dann sagte, hörte, wurde mir schwindelig. "Fr. Akins tut mir sehr leid, es muss uns ein Fehler unterlaufen sein..", "Das kann nicht sein..", murmelte der Arzt zurück. Bevor die beiden ihr Gespräch weiter führen konnten, erhob ich meine Stimme. "Was meinen Sie? Ein Fehler?", ich schaute abwechselnd zum Arzt und zu meiner Mutter, die wie wild an ihren Händen rumfummelte. Dies tat sie immer, wenn sie nicht wusste, was sie sagen sollte.

Der Arzt räusperte sich. "Fr. Akins, wie Sie sicherlich wissen.. bei Ihrer Geburt ist uns ein Fehler unterlaufen, der so nicht passieren hätte dürfen. Sie kommen monatlich zur Kontrolle, doch so langsam sind auch wir ratlos, wie wir Ihnen helfen kö-", meine Mutter unterbrach ihn. Mit zitternden Händen ließ sie den Stapel Unterlagen los. Er fiel auf den Boden. Daraufhin folgte eine fast schon unangenehme, unheimliche Stille. Ich starrte meine Mutter an. "Du wusstest davon?", sie nickte. In meinem Kopf herrschte nun pures Chaos, so viele Fragen. Die ganzen Jahre. Ich hatte immer gedacht, ich wäre krank. Ich wäre so krank, dass ich die Gedanken anderer hören kann. Ich hatte gedacht, das wäre alles bloß pure Einbildung. Der Arzt hatte sich in Zwischenzeit neben meine Mutter gestellt, diese brach in Tränen aus. Ich konnte sie noch nie weinen sehen. Aber irgendetwas war nicht so wie immer. Ich spürte, wie mein Herz zerbrach. Ich spürte die Enttäuschung und die Angst. Ein kalter Schauer überzog meinen Körper, ich bekam Gänsehaut. Jeder wusste es. Nur ich selbst nicht. Die Gedanken in meinem Kopf wären zu grausam zu erzählen. Die Gedanken meiner Mutter waren wirr. Durcheinander. Ich hörte nur ein "Bitte nicht" und ein "Mein armes, kleines Mädchen".

Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding, ich vergaß für einen Augenblick den Boden unter meinen Füßen. Als ich mich wieder gefangen hatte, gab es für mich kein Halten mehr. Ich bin einfach gerannt. So schnell ich konnte. Aus dem Krankenhaus. Rein in die große, weite Welt. Wie konnte mich meine eigene Mutter so lange belügen? Hatte sie kein schlechtes Gewissen, ihr eigenes Kind so lange unwissend leiden zu lassen? Eins war mir klar. Ich möchte nie wieder zurück nach Hause. Nie wieder dieses alte, mit Bäumen und Pflanzen zugewucherte Haus. Man könnte glatt meinen, es wäre verwahrlost. Doch meine Mutter hatte einen Faible für dieses ganze Pflanzengedöns. Sie pflegte diese grünen Dinger mehr als ihre eigene Tochter. Ich hatte trotzdem immer ein eigentlich gutes Verhältnis zu meiner Mutter. Ich wusste, dass sie mich liebt. Und mich auch als Kind schon geliebt hat. Doch manchmal wusste sie nicht, wie sie mir diese Liebe zeigen soll.

Irgendwann hörte ich einfach auf zu rennen. Ich stoppte. Meine Beine fühlten sich an wie nach einem mehrstündigen Marathonlauf. Ich war nun ganz alleine. Ich war noch nie länger als 10 Minuten von meiner Mutter getrennt. Sie machte sich immer und jederzeit Sorgen um mich, dass mir etwas passieren könnte. Und nun war mir auch klar, warum sie solche Angst hatte. In einem Wald suchte ich mir einen ruhigen Platz und setzte mich auf eine Bank. Ich holte meine Kopfhörer aus meiner Jackentasche und hörte mir, immer noch leicht aus der Puste, das Lied "Labyrinth" von Kontra K an. Es war schon immer mein Lieblingslied gewesen. Musik hatte, seitdem ich ein kleines Kind war, eine beruhigende Wirkung auf mich. Wenn ich als Baby weinen musste und nicht aufhören konnte zu schreien, hatte meine Mutter Musik angemacht und mein Schreien hörte augenblicklich auf. Es fühlte sich gut an alleine zu sein. Oh, jetzt kommt meine Lieblingszeile aus dem ganzen Lied. "Du hast kein' Platz hier drin, in diesem Labyrinth. Willkommen in meinem Kopf, in meinem Kopf! Schattenwelt, ein schwarzes Loch.." - das Lied neigte sich dem Ende, also stand ich auf und war kurz davor weiterzugehen, als ich plötzlich einen lauten Schrei aus einem Gebüsch vernahm....



Das fremde GedankenlabyrinthWhere stories live. Discover now