2 ♛ Unwahre Begebenheiten

109 14 28
                                    

Wie immer am Abend vor einem schlimmen und angsteinflössenden Tag wünschte ich mir, dass ich die Zeit vorher mehr genossen hätte - dass ich die weniger nervösen Momente als wichtiger betrachtet hätte.

Aber wie es nunmal war - ich tat es nie.
Als ich also mit Elio, Tante Augustine, Onkel Wyll, Cassidy, Zach, Victoria und Glenn in unserem Garten sass und die Stimmung so angespannt war, dass sie fast Funken schlug - wusste ich, dass sich wohl nie etwas ändern würde.

Die Tour der Sieger.
Die Tour, welche genau in der Mitte zwischen den jeweiligen Hungerspielen zelebriert wurde - um die Distrikte daran zu erinnern; "Oh, hey, übrigens; es ist bald wieder soweit! Bald dürft ihr wieder eure Kinder in den Tod schicken!"

Seit gut zwei Wochen hatten mich Helio, Tulip, Johanna und Blight darauf vorbereitet.
Darauf, dass ich meine vom Kapitol geschriebenen Reden in den jeweiligen Distrikte abhalten konnte.
Darauf, dass ich gut aussah. Stark. Stolz. Gesund. Glücklich.
Helio war wirklich ein Meister in seiner Arbeit.

Das Reden halten war dann eher ein Problem gewesen - als ich die Kärtchen mit dem Kapitolslogo darauf das erste Mal in die Hände bekam, drehte ich schon durch.
Als ich die Rede in Distrikt 8 sah. Oder die Rede in Distrikt 4.

Das Kapitol machte sich einen sadistischen Spass daraus, bei ehemaligen Verbündeten besonders auch auf das Persönliche im Geschriebenen zu achten - damit man noch mehr litt. Noch mehr gefoltert wurde.
Damit es noch tragischer war.

Und morgen Vormittag um genau 10:00Uhr fuhr unser Zug in Distrikt 7 los - zu unserem ersten Halt in Distrikt 12.
Insgesamt würden wir eine Weile unterwegs sein - weg von meiner Familie. Weg von meinem neuen Zuhause. Weg von Elio.

Dieser sass neben mir und strich schon so lange gedankenverloren über meinen Handrücken, dass ich fürchtete, er würde davon Muskelkater bekommen.

Wie man einen solchen Abend verbrachte, schien niemand wirklich zu wissen.
Ob man nun still schweigend dasass und zum Horizont starrte - oder man lachte und irgendetwas vorspielte, welches eigentlich sowieso niemand ehrlich fühlte.

Zach hatte uns vor ein paar Monaten aus ausgesonderten Baumstämmen, welche nicht gut genug fürs Kapitol waren - einen wunderschönen Sitzplatz mit Bänken und einem feinsäuberlich geschliffenen Tisch gefertigt.

Tante Augustine wiederum nähe uns ein paar Kissen aus Stoff von alten Kleidern.
Der Ausblick, welchen uns von hier aus geschenkt wurde, war unser Gartenparadies. Dahinter der Wald, hinter welchem stets die Sonne während wunderbaren Herbstfarben versank.

Ganz einfach gesagt; es war der gemütlichste Platz, welchen wir alle hier je besessen hatten.

Blight hatte uns drei Flaschen Wein organisiert - und auch wenn ich damals nach meiner Rückkehr an seiner Weinkenntnis gezweifelt hatte, musste ich nun zugeben, dass der Mann etwas davon verstand.

Auch wenn Johanna mir oft half und für mich da war, musste ich zugeben, dass Blight stets als Einziger der Beiden verstand, wenn es mir zu viel wurde. Ich auch einfach mal eine Auszeit brauchte oder irgendeine überraschende Geste, damit ich kurz die Realität vergessen konnte.

Manchmal stand er mit einer neuen, eigenen Teemischung vor der Haustür - oder brachte uns Wein oder sogar eine Flasche Schnaps. Fanden ihn ohne Vorwarnung in unserem Garten am Unkraut jäten - oder man sah ihn mit Johanna auf seiner Terrasse Boccia spielen (nicht ohne, dass Johanna ihn laut beleidigte, weil er scheinbar immer gewann).

Dass er gefühlt alle Gegensätze sprengte, war ihm egal.
Er war einfach ein wunderbarer Mann.

Heimlich war ich aber ebenso zum Entschluss gekommen, dass er Johanna sehr gut tat.
Dass ohne ihn - sie vielleicht so enden würde wie etwa Haymitch Abernathy aus Distrikt 12. Oder die Morfixer aus Distrikt 6.

Ayleen Fox | Leben als MentorinWhere stories live. Discover now