Fathis „Gang nach Canossa" oder das Ende einer Familienfehde

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Seit sie Kinder waren, hatten Fathi und Abdul immer wieder Streit. Inzwischen waren beide zu jungen Männern herangewachsen und es hatte sich nichts daran geändert. Auch an diesem Tag kam es wieder zu einer lautstarken Auseinandersetzung mitten auf der Straße. Viele ihrer Nachbarn beobachteten, wie die Beiden sich immer neue Beleidigungen an den Kopf warfen.

Dieses Mal sollte es jedoch nicht bei den Beschimpfungen bleiben. Auf einmal eskalierte die Situation und alles ging sehr schnell. Abdul zog ein Messer und ging damit auf Fathi los. Dieser konnte ausweichen und Abdul abwehren, der jedoch zu einer neuen Attacke ansetzte. Der eine packte den anderen, ein wildes Gerangel entstand, beide schlugen wild um sich und kämpften. Bevor die Umstehenden eingreifen konnten, stürzten beide zu Boden. Abdul lag bewegungslos über Fathi und ein schnell größer werdender Blutfleck war zu sehen. Nach dem Lärm herrschte nun gespenstische Stille. Mehrere Leute eilten zu den am Boden Liegenden, aber es war bereits zu spät. Abdul war tot! Fathi hatte ihn mit einem Messerstich getötet.

Für die herbeigerufene Polizei war die Sachlage schnell geklärt, da es viele Augenzeugen gab, die alle das gleiche gesehen hatte: Abdul hatte als erster das Messer gezogen und Fathi angegriffen. Dieser hatte sich verteidigt und dabei kam es zu der tödlichen Verletzung. Fathi wurde abgeführt und ins Kalabosh gebracht, wo er auf seine Verhandlung warten musste. Auch das Gericht brauchte nicht lange, um zu einem Urteil zu kommen. Es war laut einstimmiger Zeugenaussagen eindeutig, dass Fathi Abdul getötet hatte. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Abdul aber der Angreifer gewesen war, wurde Fathi nur zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, die er sofort anzutreten hatte.

Da Fathi sich im Kalabosh* nichts zu Schulden kommen ließ, wurde er bereits nach der Hälfte der Zeit entlassen. Eines war jedoch klar: Eine Arbeit würde schwer zu finden sein, denn in seinen Papieren stand, dass er wegen Totschlags im Gefängnis gesessen hatte. In seinen Heimatort konnte der junge Mann auch nicht zurückkehren, denn für die Familie des getöteten Abdul spielte der mildernde Umstand „Notwehr" keine Rolle. Es bestand kein Zweifel: Würde Fathi heimgehen, wären er und seine Familie in Gefahr. Die Angehörigen des Getöteten würden Rache üben wollen und nicht ruhen, bevor er tot wäre. Dies wiederum könnte Fathis Familie nicht hinnehmen und würde ebenfalls Blutrache üben wollen. Ein Teufelskreis, aus dem kein Entkommen war.

Es gab nur einen Ausweg aus diesem Diemma: Fathi war vor seiner Gefängnisstrafe noch nicht beim Militär gewesen, deshalb wollte er seinen Dienst dort nun antreten. Danach würde er weitersehen. So vergingen weitere 3 Jahre und sieben Monate. Inzwischen war Fathi Ende 20. Ein Alter, in dem damals junge Männer bereits verheiratet waren und schon Kinder hatten. An seiner Situation hatte sich nichts geändert. Auch jetzt war an eine Rückkehr nicht zu denken, denn für Blutrache gab und gibt es keine Verjährung. Sobald er heimkäme, würde das Drama beginnen.

Eine Zufallsbekanntschaft brachte für ihn die Lösung. Ein Mann bot ihm seine Hilfe an, um nach Libyen zu gehen. Die Ausreise gelang und Fathi konnte nach einiger Zeit sogar ein eigenes Café in Libyen eröffnen. Seine Reise sollte hier jedoch nicht beendet sein, sondern sein Weg führte ihn weiter in den Irak. Dort konnte er mit seinem verdienten Geld ebenfalls ein Café kaufen und in 20 Jahren zu einem ansehnlichen Wohlstand kommen. Als jedoch der zweite Irak-Krieg begann, war auch dieser Lebensabschnitt beendet. Fathi musste das Land verlassen und wollte nun endlich zurück nach Ägypten.

Nach fast 30 Jahren kehrte er in seine Heimatstadt zurück. Seine Großmutter war inzwischen gestorben und er hatte ihr altes Haus geerbt. Mit seinen Ersparnissen konnte er auf dem Grundstück neu bauen und sich eine Existenz als Viehhändler aufbauen. Auch eine Frau nahm er sich. Seine Cousine Sekina hatte ihm schon als Junge gefallen. Wie das Schicksal so spielt, war Sekina inzwischen auch wieder alleine und die beiden konnten heiraten.

Die Gefahr war jedoch auch jetzt nicht gebannt. Abdul hatte einen Sohn hinterlassen und viele aus der Familie des Toten wollten, dass Taufik das tue, was ihrer Meinung nach seine Pflicht sei: Den Tod seines Vaters rächen! Und dies könne nur eines bedeuten: Fathi musste ebenfalls sterben!

Taufik aber war ein kluger Mann, der durchaus eingesehen hatte, dass Fatih nicht die alleinige Schuld traf und er darüber hinaus auch für die begangene Tat im Gefängnis gewesen war. Auch durch die Jahre beim Mitlitär und im Ausland hatte er für das Verbrechen gebüßt, denn er war jahrzehntelang von seiner Heimat und seiner Familie getrennt.

„Ich will Fathi nicht töten. Er war im Kalabosh und hat genug Buße getan. Es sind viele Jahre vergangen und wenn ich nun Rache nehme, wird die Familie von Fathi ebenfalls Vergeltung wollen. Ich will mich und meine Kinder nicht in Gefahr bringen und mein Vater wird dadurch auch nicht mehr lebendig", wiederholte er immer wieder, wenn einer seiner Verwandten wieder auf ihn einredete.

So ging es einige Jahre. Nur dank Taufiks Standhaftigkeit war bisher nichts Schlimmes geschehen. Die Gefahr, dass sich aber irgendwann ein anderes Familienmitglied finden würde, um Fatih zu ermorden, hing weiter wie ein Damokles Schwert über den Familien. Dies bewirkte, dass sich die angesehenen Männer seines Dorfes einschalteten. Sie wussten, dass es eine Möglichkeit gab, um die Blutrache zu verhindern. Sie gingen zu Fatih und sagten: „Fatih, es ist schon viele Jahre her, dass du Abdul erstochen hast. Du hast dafür auch viel gebüßt, aber du weißt, dass Abduls Familie immer noch Blutrache fordert." „Ich weiß das sehr gut", antwortete dieser. „Aber was soll ich tun? Ich bin ein alter Mann und will nur meine letzten Jahre in Frieden mit meiner Familie verbringen". Daraufhin erklärten ihm die Dorfältesten ihren Plan: „Wir haben eine Lösung. Du kennst den alten Brauch Kaffan**, der die Blutrache beenden kann. Du musst bei einer großen Versammlung dein Leben beenden, in dem du einen weißen Stoff an Taufik übergibst. Dieses Leichentuch symbolisiert dein Leben, das du auf diese Weise beendest und in seine Hände gibst. Taufiks Familie muss dich und die deinen dann in Ruhe lassen."

Fatih kannte diesen alten Brauch natürlich. Entsetzt von der Vorstellung lebendig tot zu sein, lehnte er zuerst ab. Schließlich wurde der angesehenste Sheik des Ortes gebeten, ein Machtwort zu sprechen. In einer Unterredung mit Fatih und Taufik überzeugte er Fatih davon, dass Kaffan der einzige Weg sei, um Unheil zu verhindern. „Dann soll es so sein", stimmte Fatih endlich schweren Herzens zu. „Ich bin ein alter Mann, meine Tage sind gezählt und ich will, dass Frieden zwischen unseren Familien herrscht." Auch die Familie Taufiks war mit der Lösung zufrieden. Wie üblich, wurde das Urteil des Sheiks angenommen.

Die Dorfältesten übernahmen die Vorbereitungen für die Kaffan-Feierlichkeiten. Damit alle kommen und Zeugen von Fatihs Tod sein konnten, wurde am Souk ein großes Zelt errichtet. Dort sollte die Zeremonie stattfinden. Am Tag der Leichentuch-Übergabe fand sich die ganze Stadt ein. Auch der Sheikh und der Polzeichef waren unter den geladenen Gästen. Fatih musste mit dem gefalteten weißen Stoff auf seinen Armen den lagnen Weg durch das Zelt bis hin zu Taufik gehen und mit dem Kaffan „sein Leben" in dessen Hände legen. Nun war Abduls Tod endgültig gerächt und beide Familien konnten in Ruhe leben.

Der folgende Link führt zu einem Video auf Facebook, das die Zeremonie einer Kaffan-Übergabe zeigt. Ab der 49. Minute ist der Austausch des Leichentuchs zwischen den beiden Männern zu sehen. Die Aufnahmen zeigen nicht die Personen, die in unserer Geschichte vorkommen, sind aber exemplarisch für den Ablauf dieser Feierlichkeiten.


*Ägyptisches Wort für Gefängnis

**Aus der Zeit der Pharaonen die Bezeichnung für das Leichentuch, in dem bis heute Verstorbene eingehüllt werden. Der Ausdruck wird auch für den hier beschriebenen Brauch verwendet.


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⏰ Last updated: Aug 19, 2023 ⏰

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Ägyptens unendliche Geschichten - Anekdoten aus dem Land der PharaonenWhere stories live. Discover now