Nacht aus 1001 Sternen (Märchen)

★ 1001 Nacht ★

Sobald 1001 Sterne erstrahlten und 1001 Spieler das Feld betreten hatten, konnte das Spiel beginnen. Ein großer Schriftzug '1001 Nacht - Schätze im verborgenen Reich' zog sich quer über den Himmel und Alans Computerbildschirm.

"Als erstes müssen wir dir einen Avatar erstellen", beschloss Ben und ließ sich in den Sitzsack neben seinen Freund fallen. Sein helles Haar fiel ihm dabei über die Brille und er strich es gewissenhaft weg. "Wie wäre es mit AlanderGroße?"

"Das klingt übertrieben", bemerkte Alan und nahm die Maus an sich, während er die Sterne über den Palästen betrachtete. "Erklär mir lieber die Regeln. Bisher weiß ich nur, dass du das Spiel gigantisch findest und bald zum Sultan wirst."

Ben machte es sich bequem, als gehörte Alans Zimmer ihm und wäre sein persönlicher Palast. "Mal schauen, wann 'bald' ist. Je höher dein Level ist, desto schwieriger werden die Aufgaben. Aber fangen wir von vorne an: Du beginnst mit Level eins als Taugenichts und musst dich hocharbeiten, bis du den Sultan erreichst. Dazu löst du Rätsel oder erfüllst Aufgaben - vom Computer oder von anderen Spielern - und sammelst Sterne. Je nach Level werden neue Fähigkeiten, Tools und Bereiche freigeschaltet."

"Was für Fähigkeiten?", wollte Alan neugierig wissen und hörte auf, sich durch die Avatar-Spalte zu klicken.

Das Beste am Spielen waren die Superkräfte, die er im echten Leben nicht hatte. Zu gerne würde er sich gelegentlich aus der Schule wegteleportieren oder sich unsichtbar machen.

"Du kannst dir Wachen aufstellen, die dich beschützen, schneller laufen, durch die Gegend fliegen, coole Sachen eben. Die schwarzen Haare passen zu dir, klick endlich auf weiter!"

Das tat Alan. Sofort sprang das Namensfeld über seinem Avatar auf, der ihm für ein Computerspiel erstaunlich ähnlich sah. Dunkles Haar, schmales chinesisches Gesicht und eine mittelgroße Statur. Nur die Kleidung hatte er nicht wählen können. Die Lumpen gehörten anscheinend zum Level eins des Taugenichts dazu.

Er tippte nachdenklich gegen die Tastatur. Dann gab er seinen Namen ein.

Ben lehnte sich vor. "Ala_Din?", las er vor. "Eine Abkürzung für Alan Dingas? Unkreativ, klingt aber gut."

Alan zog eine Augenbraue hoch. "Sagt der super kreative Ben1001Sultan."

Gemeinsam sahen sie zu, wie Alans Avatar im Sternenglanz aufleuchtete, sich auflöste und vor einer Reihe dunkler Holzhütten erschien. Wahrscheinlich starteten alle Spieler hier, denn die Villen, Tempel und Paläste der höherleveligen Spieler schimmerten in unerreichbarer Ferne am Horizont.

"Und jetzt?", fragte er.

"Jetzt wartest du, bis die erste Aufgabe zu dir kommt."

"Muss man sich nicht normalerweise Aufgaben suchen?"

"Ja." Ben deutete auf den Bildschirm, wo eine alte Dame auf Ala_Din zukam. "Aber die erste Aufgabe ist für alle gleich, damit man sieht, wie es geht."

Ein Ausrufezeichen ploppte über der Frau auf und Alan klickte drauf. "Ich benötige zehn Holzscheite", las er die Sprechblase vor. "Und der Stern daneben bedeutet, dass ich einen Level weiter bin, wenn ich die Aufgabe erfüllt habe? Was ist das ausgegraute Feld daneben?"

Ben leere sein Saftglas mit einem Zug. "Das ist das Risiko, welches Spieler meistens bestimmen, wenn sie eine Aufgabe vergeben. Dann können sie nicht nur die Höhe der Belohnung der Sterne für das Bewältigen der Aufgabe angeben, sondern auch eine 'Strafe' , wenn du die Aufgabe nicht in der vorgegebenen Zeit schaffst. Dann bekommst du keine Sterne von ihnen, sondern musst ihnen Sterne abgeben."

Verblüfft lehnte Alan sich zurück. "Ich muss ihnen meine Sterne abgeben?"

"Wenn du scheiterst, ja. Wenn du es schaffst, geben sie dir Sterne von sich."

"Aber dann leveln sie sich selbst ab", stellte er irritiert fest. "Wo ist der Sinn?"

"Ganz einfach: Sie haben im Endeffekt mehr davon." Ben deutete auf die entfernten Paläste. "Ich bin Level 221. Ich könnte eine Aufgabe vom Computer annehmen und soll zum Beispiel einen Rubin aus dem Palast stehlen. Dafür würde ich 35 Sterne bekommen. Dann gehe ich zu dir und biete dir 25 Sterne an, wenn du das erledigst. Schaffst du es, bekommst du deine Sterne von mir, ich gehe mit dem Rubin zu meinem Auftraggeber und bekomme meine 35 Sterne. Ein Gewinn für uns beide."

Alan nickte nachdenklich. "In der Tat eine gute Taktik."

Doch Ben hielt einen Finger in die Höhe. "Pass auf. Schaffst du es nicht, habe ich als Strafe sieben Sterne festgesetzt. Da du mit deinem niedrigen Level weniger Fähigkeiten hast, solltest du dir also gut überlegen, ob du es in meinen vorgegebenen, sagen wir 24 Stunden, schaffst. Scheiterst du, bekomme ich deine sieben Sterne - da du gerade Level eins bist, wärst du danach tot. Für mich dämpft das das Risiko, denn wenn ich selber nur 30 Stunden vom Computer bekommen habe und du mir nach 24 Stunden nicht den Edelstein gibst, bleibt mir wenig Zeit und mein Risiko, dass ich selbst Sterne an den Computer abgeben muss, ist hoch. Wenn er von mir sieben Sterne gefordert hätte, hätte ich diese sozusagen auf dich abgewälzt und keinen Verlust. Alles Taktik und Fingerspitzengefühl, vor allem als Anfänger. Überschätze dich niemals, sonst bist du schnell tot, aber geh auch nicht immer auf Nummer sicher. Du willst ja schnell aufleveln. Die coolen Fähigkeiten kommen erst ab Level 35."

Ben lehnte sich zufrieden zurück, während Alan die Erklärung verarbeitete und die alte Dame betrachtete. Da er nichts verlieren konnte, nahm er die Aufgabe an.

"Sehr gut. Jetzt suche dir zehn Holzscheite und hol dir den Stern. Achso, und lass dich nicht von Palastwachen erwischen, egal wo du hingehst. Sie rauben dir Sterne."

Ben blickte auf sein Handy, während Alan den Wald ablief und unbeholfen die Holzscheite anklickte. Er ließ Ala_Din zurückkehren und betrachtete stolz den Sternenglanz, als er einen Level auflevelte.

Level zwei, prangte neben seinem Namen. Er klickte auf die Rangliste und scrollte hoch, immer weiter, an Ben1001Sultan vorbei nach oben.

"Level 1000?!", rief er erstaunt, als er die beste Spielerin erblickte. Jasmin05. "Wie ist sie so schnell hochgekommen?"

Das Spiel war erst seit einigen Wochen auf dem Markt und ein absoluter Renner. Aber Level 1000 war für die Zeit schon eine Meisterleistung.

Alan klickte auf ihr Kontaktfeld und wollte sie gerade anschreiben, wie sie das geschafft hatte, als Ben ihn auslachte.

"Du brauchst erst ein paar mehr Level, damit sie wahrscheinlich überhaupt erst mit dir redet. Level eins und Level 1000? Das ist, als würdest du Cloe aus unserem Kurs ansprechen wollen."

Alan lehnte sich zurück. "Danke", meinte er dumpf. Die Worte versetzten ihm, ohne dass Ben es merkte, einen Stich. Aber wer wollte schon einen Level eins Taugenichts in der Schule als Freund haben? Ben und er hatten sich nur zusammengefunden, weil beide Computerspiele mochten.

Ben stand auf und klopfte ihm auf die Schulter, was vermutlich aufmunternd sein sollte, wenn Alan nicht so verkrampft gewesen wäre. "In einigen Wochen oder Monaten bist du bestimmt soweit wie ich gerade. Level 221 macht Spaß. Und ich überhole Jasmin05 irgendwann. Ich kann doch nicht zulassen, dass ein Mädchen die Bestenliste führt, oder?"

Alan wollte etwas entgegnen, doch Ben fuhr bereits fort. "Ich muss für heute los. Wenn wir uns morgen sehen, will ich, dass du mindestens Level 20 hast."

Alan begleitete ihn zur Tür. "Das kriege ich hin", sagte er. "Bis morgen."

Sobald die Tür ins Schloss fiel, stieß er einen langen Seufzer aus und ballte die Hände zu Fäusten. Dann richtete Alan sich auf und sah voller Entschlossenheit seinen Computer an. "Level 20? Ich schaffe es mindestens bis Level 30", versprach er sich selbst. "Ich komme schneller hoch, als du glaubst, Ben."

Als Alan sich hinsetzte, fragte er sich, wem er eigentlich etwas beweisen wollte.

Dann bemerkte er eine Nachricht in seinem Postfach, die ihn vergessen ließ zu atmen. Sie war von einem höherleveligen Spieler.

Dschafar: [Ich habe eine Aufgabe für dich, wenn du willst. Besorge mir die Wunderlampe aus dem Tempel des Dschinns. Ich gebe dir 250 Sterne dafür.]

Alan witterte seine Chance. Ein ungläubiges Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. Ohne weiterzulesen oder sich die Strafe anzusehen, drückte er auf Annehmen.

"Mögen die Spiele beginnen."