Einleitung

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Es sind viele Jahre vergangen, seit Eton seinen alten Glanz verlor. Es ist die Geschichte des Aufstiegs und Falls eines Reiches, dem es zu gut zu gehen schien. Eine lange Geschichte, wollte man jedes Detail abdecken. Etwas, in dem man sich wieder und wieder verlieren kann, doch womöglich mag das daran liegen, wie lange dieses Land wirklich funktioniert hat.

Damals umspannte Eton noch die halbe Landmasse Volesans. Große Städte und kleine Dörfer lagen nebeneinander wo die Böden gut waren und in den hohen Gebirgen des Kontinents fand man verlorene Seelen, die in der Sicherheit ihrer Heimat schwelgten. Selbst die äußersten Ränder der Grenzen schienen so viel gesünder als all das, was man hinter ihnen zu finden vermochte. Die mächtigen Truppen ihres Königs patrouillierten zu tausenden die Gebiete, um zu helfen wo es nötig war und zu kämpfen, wo es gefordert wurde. Es waren gute Zeiten und das Volk schien mit jedem verstreichenden Jahr weiter im Schein ihrer Herrscher zu blühen. Bestehende Städte wurden erweitert, neue gegründet und wieder andere verschmolzen miteinander. Ganz Generationen waren mit Wohlstand und Sicherheit gesegnet, während die Herrscher ihrer Zeiten neue Handelsverträge abschlossen und aufbegehrende Nachbarn zum Frieden zwangen. Doch je weiter die Bevölkerungszahlen wuchsen, desto mehr schrien die Leute nach neuem Land. Sie wünschten sich neue Reiche, die es zu erkunden gab und neue Böden, die man bewirtschaften konnte. Der florierende Handel ließ sie alle auf mehr hoffen als das, was sie hatten. Man suchte Herausforderungen.

Im Zuge der lauter werdenden Bestrebungen, wurden unter dem jungen König Solldin Illereas II innerhalb weniger Monate tausende Schiffe in die See entsandt, um nach neuen Ländereien Ausschau zu halten. Den Rest Volesans zu erobern, wie es seine Vorfahren viele Jahre vor ihm planten, war zu diesen Zeiten keine Option mehr. Man suchte nach einer friedlichen Lösung. Nach ein paar Jahren der unermüdlichen Suche, wurde man schlussendlich fündig. Eine große Landmasse nördlich ihrer Heimat und allem Anschein nach genug, um sie alle für lange Zeit zufrieden zu stimmen. Erfahrene Seefahrer schienen irritiert von dem Fund. Üblicherweise wagte sich niemand in die Gewässer so weit im Norden, wenn man nicht wusste, was einen erwartete. Dort oben lauerten Gefahren, die man kaum einschätzen konnte, geschweige denn kalkulieren. Sie fürchteten sich vor dem, was dort lauern konnte, inmitten von Gebieten, in die bislang niemand einen Fuß setzen wollte. Ihre Bedenken wurden jedoch rasch gemildert. Das Land schien sicher und ersten Erkundungen zufolge war es zwar kalt, aber bewohnbar. Der von ihnen neu entdeckte Kontinent wurde in Anlehnung an seine Mutter benannt und erhielt den Namen Erton.

Erton stellte sich tatsächlich als bislang unbewohnt heraus. Abgesehen von den Tieren und Pflanzen der unberührten Wildnis wirkten die kühlen Landstriche wie ausgestorben und boten gleichermaßen weite Flächen wie hohe Gebirge und große Seen. Es war ein neu entdecktes Idyll und auch wenn diese neuen Temperaturverhältnisse sicherlich eine Herausforderung für die Bevölkerung Etons werden würden, beschloss man dieses Hindernis schlicht zu ignorieren. Abenteurer und Neugierige aus Eton bestiegen Schiffe um beim Aufbau des neuen Landes zu helfen und so schossen über die Jahre Dörfer, Gemeinden und ganze Städte aus dem Boden des fremden Landes. Begabte Magier woben Portale zwischen den beiden Landmassen und knüpften damit neue Verbindungen, auf dass getrennte Familien sich nun auf sicherem Wege wieder einen konnten. Erton und sein Mutterland teilten sich ihre Ressourcen und bildeten trotz der Distanz eine Harmonie, die man so zuvor noch nie gesehen hatte. Während Eton blühte, begann der Rest der Welt zu brodeln.

Nach mehreren Jahrhunderten dieser glücklichen Symbiose zwischen zwei so fernen Landstrichen, hatte sich eine große Front gegen die mächtige Nation geeint. Für jeden Soldaten Etons hatten sich vier auf der Gegenseite versammelt und sie waren bereit zu kämpfen. Ein solches Land, wie Eton es war, wollte man nur allzu gern fallen sehen. Drohungen wurden ausgesprochen und Säbel gerasselt, während man den Druck auf den Herrscher Etons weiter erhöhte. Unruhe wuchs in den Herzen der Bevölkerung, die Furcht vor einem nahenden Krieg war groß. Sie mussten lange nicht mehr kämpfen, um ihre Ziele zu erreichen und Zweifel wurden laut, ob sie gegen ein solches Machtaufgebot bestehen konnten. Mit der Entdeckung Ertons hatten sie die Fläche Etons nahegehend verdoppelt und nie weiter hinterfragt, ob jemand anders Anspruch auf ihre Entdeckung erheben könnte. Sie trugen Frieden im Herzen und wollten ihn wahren. Der Herrscher Etons, König Kome Collerey VIII, war dazu gezwungen, der Ladung zu Verhandlungen nachzugehen, als sie ihn erreichte.

Was während dieser Verhandlungen geschah, unterlag strenger Geheimhaltung. Nur wenig davon verließ je die Wände des Gebäudes, in dem sie gehalten wurde, doch kehrte König Kome zurück wie ein geschlagener Mann. Man hatte ihn vor eine schwierige Wahl gestellt und egal, welchen Weg er von nun an beschreiten würde, er wusste sein Reich würde untergehen und er mit ihm.

Vielerorts riefen Propheten dazu auf, die Flüche von ihrer Heimat zu entfernen. Natur und Ordnung hatten sich auf der Erde niedergelassen, um die Völker dabei zu unterstützen, sobald nur eine neue Heimat für diese Unheil versprechenden Kreaturen gefunden war. Aufgrund des Ghi'riann, dem bindenden Pakt zwischen Leben und Tod, wäre es unmöglich, die Flüche zu vernichten, doch man konnte sie von der Gesellschaft distanzieren, bevor sie sie verschlangen.

König Kome hatte nun die Wahl zwischen zwei Übeln. Entweder er würde Erton räumen lassen und die gefundene neue Heimat den 13 Flüchen überlassen, oder die geeinten Nationen würden die Waffen gegen ihn und seine Unterstützer ziehen und Erton wie Eton gleichermaßen vernichten, sofern es nötig wäre. An dem Tag, an dem er seine Entscheidung verkündete, verlor er auch seine Krone.

Panische Massen flohen durch die Portale von dem fernen Kontinent und ließen ihre Heimat zurück, weil es für sie so entschieden wurde. Nach all den Jahren gab es niemanden mehr, der Volesan dereinst als sein Zuhause sah und inmitten all des Zorns spaltete sich das einst geeinte Volk in Fraktionen, die nun einander bekriegten, statt einen Feind von außen zu benötigen. Eton fiel nur wenige Nächte nach der Entscheidung und wie auch seine Bevölkerung zersprang es in viele kleine Teile, die einander zu hassen gelernt hatten.

Erst als die Götter die Flüche in ihre neue Heimat gebannt hatten, wurden die internen Konflikte leiser, bis sie schlussendlich verstummten. Angst raubte ihnen die Kraft, als die neuen Umstände eine Wahrheit zu Tage förderten, die sie in all dem Aufruhr zu vergessen drohten: jene Magie, die die Portale erschaffen hatte, existierte nicht mehr. Irgendwo in den letzten Jahrhunderten war sie verloren gegangen und komplizierten Verwebungen konnten nicht wieder gelöst werden. Nicht, ohne eine enorme Explosion zu riskieren, wenn sich all die darin versteckte Magie zurück in die Freiheit kämpfte. Es war unmöglich, diese Passagen wieder aufzulösen.

Die neuen Herrscher des einstigen Etons entschieden, die Portale einmauern zu lassen, bevor die Flüche auf sie aufmerksam werden konnten. Große Bauwerke aus dunklem Gestein wurden in angstvoller Feinarbeit um sie herum errichtet und mit Magie und Teer versiegelt, auf dass sie niemand mehr jemals wieder betreten möge. Die Angst saß den Völkern dennoch tief in den Knochen und wieder und wieder wurden sorgenvolle Blicke in Richtung der prominenten Konstrukte geworfen. Als ganze Städte aufgrund dieser Angst auszusterben drohten, wurden in groß angelegten Projekten ganze Stadtgrenzen verschoben. Gebäude wurden eingerissen und anderswo neu errichtet und Mauern und Grenzen neu gezogen, um die Distanz zu wahren, die für wahrhafte Sicherheit von Nöten war.

Die einzige Ausnahme hiervon war ein altes Herrenhaus. Zuletzt verbrachte König Kome VIII darin seine karge Freizeit, doch die Gemäuer waren alt und dereinst beheimateten sie König Solldin II, der trotz allem, was nach ihm folgte, ein großer Held des Volkes blieb. Es einzureißen wäre eine Beleidigung seines Erbes und einen neuen Herrscher in es hinein zu setzen nicht nur riskant, sondern noch dazu ein Affront. Man wollte nicht dort wohnen, was König Kome VIII dereinst seine Heimat nannte.

Um es nicht leerstehend zu lassen und aus Mangel an alternativen Mitteln wurde jenes Herrenhaus erst Jahrzehnte später zu einem Kinderheim umfunktioniert und auch heute erfüllt es diese Funktion noch. Magische Siegel halten die unbedarften Kinder von dem gefährlichen Ort fern, der nur wenige Kilometer von ihrer verzweifelten Heimat entfernt ist, doch leisen Gerüchte zufolge, scheint mit diesen neuerdings etwas nicht zu stimmen. Man munkelt, es gäbe ein Flackern in der Macht, die die Sicherheitsmaßnahmen in Position halten sollte und mancher eins behauptet, dass die Flüche nun endlich die Portale entdeckt haben und sich durch das hindurch schlagen, was sie auf der anderen Seite halten soll. Angst und Spannung gehen dieser Tage Hand in Hand und während viele sich vor der Möglichkeit fürchten, scheinen genauso viele regelrecht amüsiert darüber, dass solche Ideen überhaupt aufflammen konnten. Doch egal wie viel sie scherzen, hin gehen wollen sie nicht.

Ob an alledem nun etwas dran ist oder nur eines der Kinder seine Geschwister mit einer Gruselgeschichte erschrecken wollte... nun, das weiß niemand so recht.


Gial'dara - Die Legende der Flüche [MMG]Where stories live. Discover now