Sound

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Yoongi reißt sich die Mütze vom Kopf und pfeffert sie im Flur in die Ecke. Er tritt die Tür hinter sich zu und kratzt sich die Kopfhaut, reibt sich durchs Gesicht und knurrt verbittert. Als er am Spiegel vorbeikommt und seine völlig zerzausten, blassgrün verwaschenen Haare sieht, schaut er sofort angeekelt weg. Den Jutebeutel mit den Schulsachen streift er einfach von seiner Schulter und lässt ihn an Ort und Stelle auf den Boden fallen. Er ist nach der ersten Stunde direkt wieder abgehauen. Keine Geduld. Keine Kraft. Er muss noch 'ne Stunde pennen, bevor er sich für die Party im Sound fertig macht. Die Arbeitskleidung von seinem Vater ist immer noch fort. Er ist nicht zurückgekommen. Hätte er nicht schon Donnerstag Abend wieder hier sein sollen? 

Yoongi starrt für einige Minuten völlig weggetreten auf die leere Garderobe. Er ist high. Seit Jungkook gegangen ist, ist er dauerhigh. Zuerst merkt er gar nicht, dass Holly ihm um die Beine wuselt. Erst als der Pudel sich daran hoch stemmt und ihn ankläfft, kommt er wieder zu sich. Er blickt an sich hinab und betrachtet die großen schwarzen Knopfaugen, die ihn erwartungsvoll anhimmeln. Holly freut sich, dass er schon wieder zuhause ist. 

Holly ist immer einsam. 

Plötzlich hat Yoongi keine Kraft mehr zu stehen. Er sackt in sich zusammen und fällt auf dem kleinen, gewebten Teppich im Flur auf die Knie. Holly versucht, auf seinen Schoß zu springen, doch weil er so aufgeregt ist, rutscht er immer wieder ab. Seine Bewegungen sind zu hektisch für Yoongi. Er drückt sich den Handrücken gegen die Stirn, weil er das Gefühl hat, plötzlich Fieber zu kriegen. Die Nagellackreste sind jetzt von seinen Fingernägeln verschwunden. Nicht, dass er sie mit Nagellackentferner abgemacht hätte. Er hat den Lack gestern Nacht abgeknibbelt und die Teile, die er nicht mit den Nägeln runter bekommen hat, mit seiner Messerklinge abgewetzt. Es hat ihn für 'ne Viertelstunde lang beschäftigt gehalten. Das ist schon mehr, als er sich aktuell wünschen kann. 

Er hätte Jungkook nicht hierher bringen dürfen. Jungkook mag an diesem Morgen wutentbrannt aus der Wohnung gestürmt sein, doch seine Präsenz ist noch hier. Yoongi hat die letzten paar Nächte auf der Couch verbracht. Weil seine Bettwäsche so sehr nach Jasmin stinkt. Aber auch im Rest der Wohnung ist er nicht mehr sicher. In der Wanne finden sich immer noch einzelne halblange, braune Haare. Wenn er nicht aufpasst, hört er in der Küche das Zischen der Pfanne und manchmal bildet er sich sogar noch ein, die blauen Rauchschwaden zu sehen. Von den Pfannkuchen... ihren Kippen und dem wabernden Nebel, den ihre Gedanken hinterlassen haben. 

Wenn er seinen Schreibtischstuhl vorzieht, fällt ihm auf, dass Jungkooks Lederjacke nicht mehr über der Lehne hängt. Und das Tellerchen mit den Brownie Krümeln steht noch auf dem Nachttisch. In diesem Moment möchte Yoongi das Innere der Wohnung am liebsten gar nicht mehr betreten. Er überlegt ernsthaft, hier auf dem Teppich zu pennen, bis er los ins Sound muss. 

Yoongis Hand wandert in Hollys lockiges Fell und er schnaubt bitter, als ihm auffällt, wie viel Ähnlichkeit sein Hund doch mit Jeon Jungkook hat. Die dummen Kulleraugen, die zotteligen Locken und dieses brennende Gefühl von Zuneigung, das sie in Yoongis Brust heraufbeschwören. Er hasst es. Liebe kocht das Herz weich. Und dann kann man es viel leichter mit Messer und Gabel durchstoßen.


"Du kannst Jungkook auch nicht leiden, mh?", fragt Yoongi Holly, während er ihm mit beiden Händen hinter den Ohren krault. 

Er kratzt ihn dort richtig, so wie er es gerne hat. Jungkook hat Holly immer gestreichelt wie ein Kuscheltier. Er hat keine Erfahrung mit Hunden. Er hat keine Erfahrung mit leben. Holly lässt sich von Yoongis Schoß herunterrutschen, legt sich auf den Rücken und bietet ihm seinen Bauch zum Kraulen an. Yoongi schnaubt kraftlos und ringt sich ein schmerzerfülltes Lächeln ab. Seine Finger wandern über Hollys Bauch.

"Du... du vermisst mich, mh?", flüstert er tonlos. "Mhmm... ich weiß... ich vermisse mich auch."

Holly genießt die zärtliche Berührung. Er hält jetzt ganz still, ist wie in dem Moment erfroren. Natürlich merkt er nicht, wie Yoongis Augen sich mit Tränen füllen.

"Du musst jetzt ganz stark sein, weißt du... Aufgeben... aufgeben ist ganz einfach... aber du darfst es dir nicht so einfach machen... ich weiß, dass du dich fragst, warum... aber ich versprech dir... ich versprech dir, dass... es irgendwann wieder besser wird... der... der Winter fängt zwar jetzt erst an, aber... er geht auch vorbei... er geht auch vorbei, Holly... daran musst du glauben, ok? Versprichst du mir, dass du... dass.... du daran..."

Seine Stimme versagt und er wischt sich mit den Handballen die Tränen aus den Augen. Niemand hat Min Yoongi jemals weinen sehen. Niemand außer Min Holly. Der sieht ihn oft weinen. Sehr sehr oft. Er sagt all das zu seinem Hund. Aber in Wirklichkeit sind es die Worte, die Suga an Min Yoongi richtet. Den Jungen, der nicht mehr sprechen kann. Der genauso wie Holly darauf wartet, dass Suga zu ihm zurückkommt und Zeit mit ihm verbringt.

Es klopft an der Tür. Für einen kurzen Moment ist Yoongis Herz im freien Fall. Seine erste, spontane Reaktion, ist, wie immer so zu tun, als wäre er nicht zuhause. Er stellt sich immer tot. Wenn man von jedem Mal tot stellen ein bisschen sterben würde, dann würde er schon seit Jahren die Radieschen von unten betrachten. Aber warte mal... man stirbt mit jedem Mal tot stellen ein bisschen...weißt du das denn nicht, Yoongi?

"Yoongi-ssi? Ich bin's..."

Es ist die Stimme seiner Nachbarin. Frau Yoon. Yoongi beißt die Zähne zusammen und zieht die Nase hoch. Er muss aufmachen. Er ignoriert sie schon viel zu lange. Schwerfällig zieht er sich an der Garderobe auf die Beine und hängt die Kette ein, bevor er die Tür einen Spalt öffnet. Holly rennt ihm sofort zwischen die Beine und bellt aufgeregt. Er mag Frau Yoon. Und es gab Zeiten, da hat sie ihn auch gemocht.

"Was gibt's?", fragt Yoongi matt. 

Scream harder, NovemberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt