Klarkommen

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Alles hat sich beruhigt. Meine schlechten Gedanken, die Selbstzweifel, meine Tränen und die Angst. Zumindest schlafe ich in dieser Nacht und träume keine dunklen Dinge. Zum ersten Mal seit fünf Tagen. Natürlich sind die negativen Gefühle nicht ganz verschwunden, aber endlich auf einem kontrollierbaren Level.

Der Abend mit Leo und meiner Mama ist der Grund. Sie schafften es, dass ich wieder etwas lachen konnte. Leo therapiert mich und ich ihn irgendwie. Das weiß ich, weil er sehr kuschelbedürftig in den letzten Tagen ist und seine Augen etwas Traurigkeit verlieren, wenn ich ihn umarme. Mein Herz geht jedes Mal auf.

Der kleine Lockenkopf erinnert mich so sehr an mich selbst. Noch immer fühle ich mich so privilegiert, dass ich sein Papa sein darf. Ich wünsche ihm ein wundervolles Leben und habe mir geschworen, dass ich ihm das zu allen Zeiten erfüllen möchte. Mark und ich sind die Väter, die wir selbst nie hatten. Kann man darauf stolz sein? Ich denke schon. Und so wird das auch in Zukunft sein. Aus, Punkt, Ende.

Mein Handy vibriert auf dem Tisch. Ich stelle den Wäschekorb ab und blicke auf das Display. Eigentlich möchte ich echt nichts hören. Marks Tante. Ok, das ist wichtig. "Hi, Katharina", melde ich mich. "Hi Dag, hoffentlich störe ich dich nicht", begrüßt sie mich. Nein, sie doch nicht. "Überhaupt nicht. Wie geht es dir?", gehe ich darauf ein. Ein kleines Seufzen am anderen Ende, dann sagt sie: "Naja, den Umständen entsprechend. Mir ginge es besser, wenn ich bei meinem Jungen wäre. Und bei dir?"

Kann ich verstehen. Nach all den Jahren verstehe ich auch meine Mum. Es macht verdammt etwas aus, ob ich weiß, was mit meinem Kind oder Partner ist oder nicht. Jeder Moment kann etwas verändern und das ist dann nicht egal. "Heute etwas besser wieder. Leo gibt mir Kraft. Die brauche ich auch. Es ist nicht leicht, jeden Tag im Krankenhaus. Begrenzte Zeit und ich möchte soviel sagen, aber kann es irgendwie nicht", plaudere ich. Ihr kann ich das anvertrauen.

"Du machst das sicher gut. Schön, dass es dir besser geht. Ich wollte dir nur sagen, dass ich morgen mit Holger nach Berlin komme", erklärt sie. Oh, dann sollte ich wirklich aufräumen. "Alles klar. Ich beziehe das Bett im Gästezimmer für euch", antworte ich. "Nein, Dag, das können wir nicht annehmen. Ich habe ein Hotel in der Nähe gefunden und das ist in Ordnung. Euer Zuhause ist dein Safespace und da möchten wir nicht stören", betont Katharina.

Eigentlich stimmt das wirklich. Nur hier kann ich mich richtig und komplett fallen lassen. Aber ich wollte nicht unhöflich sein. Wir besprechen, dass sie sich meldet, wenn sie morgen hier ist. Es ist Mitte der Woche und sie lassen scheinbar alles stehen und liegen. Ob Marks leibliche Eltern das getan hätten? Wohl eher nicht. Immerhin war es ihnen 20 Jahre lang komplett egal. Was auch immer in der Zeit passiert wäre, sie hätten nichts davon mitbekommen.

Ich finde dafür bis heute keine richtigen Worte. Mein Vater hat das Modell Familie zwar auch gegen die Wand gefahren, aber er war nie ganz weg. Eigentlich wusste er über alle großen Dinge in meinem Leben Bescheid. Auch über die negativen. Es hat ihn nur meist nicht interessiert. Es dauerte lange, bis Mama das tolerieren konnte. Sie halten bis heute spärlichen Kontakt und das meinetwegen.

Ich bin weit erwachsen, doch sie hat immer dafür gekämpft, dass er mich nie als Fehler betiteln kann. Sie sagt oft: "Er soll dich sehen. Ist doch für etwas gut, dass du ein Künstler in der Öffentlichkeit bist." Ja, ich bin Künstler. Schon so viele Jahre. Mein Traum hat sich spät erfüllt, aber immerhin. Und ganz wichtig: Zusammen mit Vincent.

Damit habe ich ganz vielen Menschen gezeigt, dass ich sehr wohl ehrgeizig für etwas kämpfen kann. Ich bin nicht faul und habe definitiv einen Platz in dieser Welt verdient. Das rufe ich mir zu selten in Erinnerung. Was wussten die Leute damals schon? Hass bekämpft man mit Liebe. Das habe ich mit Mark zusammen entdeckt. Man kann seine Meinung sagen und das trotzdem mit einer achtvollen Message. Ehrlich, aber wertvoll.

Ich bin in der richtigen Umgebung eigentlich eine richtig offene Laberbacke und kann mich für viele Themen begeistern. Das bestätigt mir jeder, der den ParkourNeurds-Podcast mit Martin hört. Das entwickelte sich schon ganz früh und noch viel weiter in meinem Studium. Aber die Rhetorikskills schaute ich mir von meinem Mann über die Jahre ab.

Er kann sehr überzeugend sein, wenn er möchte. So ganz ist der Banker nie verschwunden. Das finde ich so faszinierend. Ich muss schmunzeln, weil mir eine alte Geschichte einfällt. In allen meinen Wohnungen in Berlin hatte ich nie Glück mit den Vermietern. Wasserrohrbruch, feuchte Wände, kein Wasser oder im Winter eine nicht funktionierende Heizung. Echt eine Art Fluch.

Erzählte ich beiläufig Mark, dass es eiskalt in meiner Wohnung ist. Er zögerte nicht lange, bat mich um die Kontaktdaten des Vermieters und meinte, dass ich ihm eine Stunde Vorbereitung geben solle. Mit einem beschriebenen Notizblock kehrte er kurz darauf zurück und rief im Büro des Vermieters an. Was dann kam, überrascht mich bis heute noch sehr. Eine ganz andere Seite an ihm.

Ich beschwerte mich natürlich zuvor auch, aber erfolglos. Doch er verpackte das so anders. "Nein, Sie haben das nicht korrekt verstanden. Ich werde das jetzt mit Herrn Wolf besprechen. Das ist eine Tatsache und kein Wunsch. Nun bitte ich Sie herzlichst, mich zu Ihrem Chef durchzustellen. Vielen Dank im Voraus und ich warte." Das sagte er zu der Sekretärin, die ihn abwimmeln wollte. Es funktionierte tatsächlich und im Gespräch mit Herrn Wolf schmiss er nur so mit Paragraphen aus dem Mietrecht um sich.

Er redete den sonst schon sehr arroganten und gewieften Vermieter fast in Grund und Boden. Aber mit Hand und Fuß. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen: Mietminderung und ein unabhängiger Handwerker, der sich dem Problem ohne Tricks annimmt. Dag, 29, war total geplättet, weil Mark, 19, so selbstbewusst sein konnte. Das kann ich heute natürlich auch, aber es war ein Prozess. Ich habe nie meine Meinung zurückgehalten, aber die Art und Weise war vielleicht nicht immer so zielführend.

Es ist doch gut, dass wir stetig noch immer neue Dinge lernen. Ich weiß, dass mich meine derzeitige Situation auch einiges lehren wird. Schicksal kann unfair sein und das ist es auf jeden Fall, aber es macht uns zu den Personen, die wir sind. Meine Hoffnungen sind zurück und das stabil genug, um mich etwas zu trauen. Ich schnappe mir meine Gitarre und verlasse nach kurzer Zeit die Wohnung.

Mein Herz BrenntDove le storie prendono vita. Scoprilo ora