9. Verloren

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Die erste Woche nach den Ferien endete und anstatt zu musizieren, trafen sich alle in der Mensa zum Lernen. Die komplizierte Stimmung hatte sich auch gelegt und Sora wurde nicht mehr mit Fragen gelöchert, was es mit ihrem Verhalten auf sich hatte. Worüber sie auch sehr froh war, da ihr langsam die Ausreden ausgingen und sie sich immer mehr ein Lügenkonstrukt verirrt hat, aus welchem sie nur schwer wieder entkommen konnte. Alle saßen sie nun an einem der Tische, bedeckt von Büchern, Stiften und Zettel und die Köpfe, die darüber hingen, qualmten vor Verzweiflung. »Maaan. Ich verstehe Mathe einfach nicht. Wer braucht das denn überhaupt?« Yoshi warf ihre Arme kapitulierend nach oben und sprach anschließend ihr Mantra, welches ihr Glück in Prüfungen geben soll. »Wenn du dich konsequenter auf deinen Hintern setzen würdest, bräuchtest du das Mantra nicht mal.« Ausgerechnet Shigeru, der noch in die zweite Klasse ging, musste seine Meinung kundgeben und wurde auch sofort mit bösen Blicken bestraft. Dass es außerdem unangebracht war, kam ihm erst sehr spät in den Sinn. »DU hast gut reden! Und warum sitzt du hier überhaupt? Das Thema habt ihr noch nicht mal?« Shou lag eine Hand beruhigend auf Yoshis, die sich gerade eine Stifte-Etui schnappen wollte, um diese als Waffe zu missbrauchen. Und während jeder andere seine Hände schützend vor sich halten würde, so klemmte der Pianist seine unter die Achseln und duckte sich. »Nicht die Hände! Bitte!« Und schon wieder war es Sora, die ein Handgemenge unterbinden musste und sich zwischen die wütende Mäute stellte. »Hier werden keine Hände verletzt. Jetzt leg das Etui weg, Yoshi. Und du Hiroshi, hör auf mit den Stiften zu jonglieren, dass macht es nicht besser. Shou nimm es ihr doch endlich aus der Hand! Sind wir hier im Kindergarten, oder was? Und jetzt gib mir deine Aufgaben, ich erkläre es dir.«

Nach einer kurzen Diskussionsrunde, das Verstecken von Dingen, die als Waffen zweckentfremdet werden könnten und die Aufforderung sich endlich mal zu beruhigen seitens von Sora, wurde es wieder ruhiger und Sora erklärte ihren Freunden, wie die Aufgaben zu lösen sind. Auch wenn sie mit bösen Funkeln zwischen den Sitznachbarn oder das laute Seufzen zwischen den Multiplikationen ankämpfen musste. Erst als sich jeder wieder auf sein eigenes Blatt konzentrierte, beugte sich Shou vorsichtig zu Sora und sprach sie leise an. »Hast du jetzt eigentlich eine Antwort bekommen? Ich meine, wegen der Halle?» Sie schlug sich gegen die Stirn und atmete scharf aus, da ihr wieder einfiel, dass sie Sugawara darauf angesprochen hatte, aber nach dem ganzen Chaos vergessen hatte, nochmal nachzuhaken. »Nein, hat er noch nicht und ich muss gestehen, dass ich es auch ganz vergessen habe. Vielleicht erwische ich ja noch einen von den beiden, wenn wir hier fertig sind.« »Ganz bestimmt. Die trainieren doch seit neuestem bis spät abends. Ich begleite dich später, dann musst du im Anschluss nicht allein zum Bahnhof.« Bot ihr Shou mit einem Augenzwinkern an und Sora nahm das Angebot erleichtert und nichts ahnend dankend an. So muss sie sich Sawamura nicht allein stellen und sie kann im Anschluss mit Shou über genau diesen sprechen. Vielleicht kann sie etwas Licht ins Dunkle ihrer Gefühle bringen.

Und es dauerte auch nicht lang, bis die beiden vor der Sporthalle standen und Soras Hände feucht wurden und ihr Herz anfing aus dem Takt zu geraten. Die ganze Zeit konnte sie ihm aus dem Weg gehen oder sich vor einer Unterhaltung drücken und jetzt musste sie ihn direkt ansprechen. Zum Glück hatte sie ihre Freundin als seelische Unterstützung dabei, dass gab ihr ein sicheres Gefühl. Beide ragten gleichzeitig ihre Köpfe durch die offene Tür und sahen wie zwei sich Erstklässler stritten, zwei andere, die es mit einem höhnischem Blick beobachteten und Azumane, der mehr schlecht als recht, die zwei Streithähne versuchte zu beruhigen. Auf der anderen Seite standen die anderen Zweitklässler die belustigt zu den verzweifelt aussehenden Riesen schauten und sich die Bäuche hielten. Als Shou sie anstupste und mit dem Kinn auf zum Rand der Halle zeigte, sah sie den Coach und die anderen drei Drittklässler, die miteinander sprachen. Dennoch machte die Schüchterne keine Anstalten sich zu bewegen und das bemerkte natürlich Shou und schubste sie einfach in die Höhle des Löwen. »Shou-Shô! Warum tust du das?« Und als ob es nicht schlimmer kommen könnte, zeigte sie mit dem Finger in die Halle und Sora musste nun feststellen, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. »Danke!« sprach sie sarkastisch scharf zu ihrer Freundin, während von ihr nur ein selbsgefälliges »Bitte« kam. Wie sehr sie sich jetzt einen Notenständer wünscht, um ihn mit voller Wucht auf Shous Kopf zu schmettern. »Takahashi? Was treibt euch hier hin? Ist alles in Ordnung?« "Warum muss er immer so freundlich sein?" Ihr blieb einfach die Spucke weg und mehr als den Mund zu öffnen kam auch nicht von ihr. Aber das Glück schien sie wieder ereilt zu haben und sein Freund und Vize-Kapitän kam auf sie zugerannt und verbeugte sich mehrfach entschuldigend, bis er direkt vor ihr gebeugt stehen blieb. »Ich entschuldige mich vielmals! Ich bin so ein Dussel. Durch den ganzen Stress vor dem Spiel, habe ich ganz vergessen Daichi zu fragen. Es tut mir leid!« Glücklich darüber, dass er ihr damit den ersten Schritt abgenommen hat, aber sichtlich verlegen, weil er immer noch verbeugt vor ihr stand. Und zu allem Übel, als sie Sugawara auffordern wollte sich wieder auftzustellen, rief Tanaka aus der Zweiten rüber, dass er es ja noch nie gesehen hätte, dass sich der Drittklässler so sehr für eine Entschuldigung verbeugen würde. »Bitte, Sugawara. Bitte, stell dich wieder hin! Alles ist in Ordnung.« Shou stand sichtlich amüsiert neben ihr und sah sich die Show aus der ersten Reihe an. Nun stellt sie sich nur die Frage, warum Sora nochmal so erleichtert war, dass ihre Freundin mitgekommen sei.

»Was sollte Suga mich denn fragen?« Der Kapitän stellte sich neben seinem Teamkollegen und sah Sora direkt in ihre Augen. Sie konnte ihre Worte nicht richtig zurechtlegen, da sie einerseits davon abgelenkt war, dass der Coach zu den anderen rief, dass sie weiter trainieren sollten und sich damit die Geräuschkulisse stark aufbaute und andererseits, dass sie von ihn so angestarrt wurde. Es war zum Haare raufen. Seit dem Vorfall vor der Mädchentoilette, war es ihr nicht mehr möglich mit ihm normal zu agieren, da sie nicht wollte, dass Michimiya sich nicht noch elender fühlte. Aber jetzt musste sie sich zusammenreißen und das schnell über die Bühne bringen, hier ging es nicht um sie oder ihm, sondern ihrem Club und die Proben. Sie richtete ihren Oberkörper, machte sich gerade und sah ihn ebenfalls direkt in sein Gesicht. Nicht in die Augen, dass war für sie noch unangenehm, daher suchte sie sich einen Punkt zwischen seinen Augenbrauen. »Wir wollten dich eigentlich fragen, ob es möglich wäre die Halle nochmal zu nutzen. Wir würden auch schon gerne unsere Instrumente aufbauen, dass würde uns auf jeden Fall viel Stress ersparen. Kannst du da irgendwas machen?« Sie atmete erleichtert aus und beobachtete ihn, wie er nachdachte und sich schnaufend durch sein Gesicht fuhr, dann bat er sie kurz um einen Moment und lief dann zu Coach Ukai rüber. Sie und Shou schauten sich fragend mit hochgezogenen Schultern an und warteten nun ab. Dabei ließ sie zwischendurch ihren Blick durch die Halle und den traninierenden Jungs gleiten. Ein paar Gesichter erkannte sie nur zu gut und winkte ein paar von ihnen freundlich zu. Auch die kleine Krähe, dem sie fast ihre Tasche um die Ohren gehauen hatte, erkannte sie und begrüßte ihn. Er winkte zwar, wurde dabei aber so rot, dass sie förmlich die Hitze über seinen Kopf aufsteigen sah, bis er sich von seinem Teamkollegen eine auf an den Hinterkopf eingefangen hatte und sich wieder auf das Spiel konzentrierte. Sie nahm die Geräusche und Eindrücke in sich auf, lauschte das rhythmische Aufschlagen der Bälle, das quitschen der Sohlen auf dem Holzboden. Ihre Gedanken schweiften ab und lauschte. »Wie kann es sein, dass dich jemand seit neuestem so aus der Bahn werfen kann?« Leise und nur für ihre Ohren bestimmt, sprach Shou zu ihr, ohne ihren Blick von dem lauten Getümmel zunehmen. Sora versteinerte, nahm von allem, was in diesem Moment um sie herum geschieh, nichts mehr war und fragte sich das nun auch.

Ihre Starre wurde nur unterbrochen, weil Sawamura sie und ihre Freundin zu sich rief und sie beide zu den Bänken gingen. »Guten Abend ihr beiden. Wegen den Proben, naja, eigentlich passt es überhaupt nicht, dass wir die Halle hergeben können. Aber da mir Sawamura sonst in den Ohren liegen würde, wenn ich es nicht irgendwie möglich machen würde, kann ich euch nur den Vorschlag machen, dass wenn es das Wetter zulässt, ich die Aufwärmphasen und das Ausdauertraining nach draußen verlege. Das bedeutet aber für euch, dass ihr das Aufbauen und Proben splitten müsst. Ist es euch so genehm?« Nach einer Achterbahn der Gefühle, die mit einem langsam Anstieg der Enttäuschung begann und mit der schnellen Abfahrt in das Glück fuhr, schauten sich die beiden Damen strahlend an und nahmen das Angebot nur zu gern an. Es blieb also nur noch der Abschied von der gesamten Truppe, wobei es sich Sora nicht nehmen konnte, Sawamura ihren persönlichen Dank für seinen Einsatz auszusprechen. Nun war er es, dem die Fähigkeit verließ, sich zu bewegen und die gesamte Farbskala von Rottönen auf seinem Gesicht zu durchlaufen. Nur Sugawara konnte ihm mit einem harten Seitenhieb mit der flachen Hand, zum Leben erwecken.

»Na sie mal einer an. Wenn er nicht in den Ohren von Ukai hängen würde. Ich glaube ja, dass wenn ich ihm Alleingang gefragt hätte, wäre ich nicht zu so einem Ergebnis gekommen.« Stichelte Shou schonungslos auf Sora ein, als sie das Schulgelände verlassen hatten und sich die kühle Luft, wohltuhend auf dem Gesicht der Violinistin anfühlte. »Das stimmt doch gar nicht. Sie wissen doch auch, dass der Abschluss nicht nur für sie ein wichtiges Ereignis ist.« Versuchte sie sich zu rechtfertigen, wobei sie nur auf Granit stieß. »Nope! Das liegt daran, dass Daichi ein Auge auf dich geworfen hat. Das sieht doch jeder Blinder mit Krückstock!« Und wieder fragte sie sich, womit sie das verdient hatte und was sie in ihrem früheren Leben getan haben muss, dass ertragen zu müssen. Beide gingen schweigend nebeneinander her, während Shou die Abendluft genoss und sich in der Gegend umsah, dachte Sora nach. Sie legte sich die Worte zurecht, spielte Szenarien nach und mögliche Antworten auf ihre Fragen. Sie knabberte auf ihre Unterlippe und schien ins Leere zu starren, bis sie zu dem Entschluss kam, einfach das zu sagen, was ihr als erstes in den Sinn kam. 

»Du, Shou. Darf ich dich was persönliches fragen?« 

»Na endlich rückst du damit raus. Schieß los. Deine Freundin Shou schenkt dir ihre volle Aufmerksamkeit.«

verloren - gesucht - gefunden.Where stories live. Discover now