07: Feuer und Flamme

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Deutschland, Berlin – 15. Juni 1927

„Lass mich gehen", ächzte Siegfried und das Kratzen in seinem Hals verriet ihm, dass er die Worte nicht nur gedacht hatte. Oder waren das Lillians Schmerzen, die er nun begann, selbst zu spüren? Siegfried wusste es nicht. Es interessierte ihn nicht. Er wollte nur, dass es aufhörte.

Doch Lillian kannte keine Gnade. Stattdessen zog sie ihn tiefer in ihren Geist, bis die Bilder an ihm vorbeischwirrten und sein Selbst völlig in ihrer Vergangenheit zu ertrinken drohte. Angst, Hass, Freude, Wut und ein plötzlich taumelndes Hoch an Emotionen, wechselten genauso schnell wie Sorge, Trauer, Lust und abgrundtiefe Verzweiflung ohne, dass er sagen könnte, welche Gefühle zu welchen der vorbeirasenden Bilder gehörten. Unendlich viele fremde Gesichter zogen an ihm vorbei. Nicht nur ein Leben, sondern viele Leben – mehr, als sein Geist je auf einen Schlag verarbeiten könnte. Und Raik. Immer wieder Raik.

„Bitte", flüsterte der Hexer. Er wollte das alles nicht länger sehen. Konnte die Nähe zu diesem Chaos nicht mehr ertragen.

Schlagartig hörte es auf. Er war allein mit seinen eigenen Gedanken.

Dann schnitt Lillians Stimme kalt durch seinen Geist: „Nie wieder." Nichts hatte ihm je zuvor so viel Angst eingejagt wie diese Stimme in diesem Augenblick. „Nie wieder wirst du mich oder die meinen bedrängen. Das nächste Mal brenne ich dir deinen kleinen, unbedeutenden Verstand aus." Stille, in der er nicht wagte, irgendetwas zu sagen. „Hast du das verstanden?"

Siegfried zitterte und nickte. Dann wurde ihm bewusst, dass sie das nicht sehen konnte. „Ja", murmelte er leise.

Raik neben ihm schnaubte und der Hauch seines Atems streifte Siegfrieds Wange. So dicht neben dem großen Werwolf, fühlte Siegfried sich winzig. Auch wenn sie gerade mal ein halber Kopf Größenunterschied trennte - der Hexer wäre am liebsten einen Schritt bei Seite gegangen und endlich hinter dem Vorhang hervorgetreten. Nur weg, so viel Abstand wie möglich. Doch die Hand auf seiner Schulter war unerbittlich, mahnte ihn zum Stillhalten. Also hielt er still, wie ein Kaninchen, das sich tot stellte, weil es einen Wolf witterte.

Dann wurde die Tür geöffnet. Siegfried zuckte zusammen.

Raik neben ihm atmete tief ein.

„Ein Mensch", hauchte der Werwolf fast lautlos an seinem Ohr und Gänsehaut rieselte Siegfrieds Rücken herab. Nicht wegen Raik, nicht nur, sondern, weil die Person vor ihnen ein Mensch war. Das bedeutete, dass der Hexenzirkel, den sie suchten, mindestens mit normalen Menschen zusammenarbeitete. Das erhöhte die Aufdeckung der übernatürlichen Gemeinschaft immens. Vor allem warf es unangenehme Fragen auf, die den ganzen Auftrag um einiges komplizierter machten, als ursprünglich angenommen.

Siegfrieds Gedanken drehten sich im Kreis, ohne dass er einen davon zu fassen bekam. Obwohl Lillian seinen Geist freigegeben hatte, ließen ihn ihre Erinnerungen noch immer nicht los. Er wünschte, er könnte sich hinsetzen. Wenigstens bis dieses andauernde Zittern seiner Händen endlich aufhörte und seine Beine sich nicht mehr anfühlten, als würden sie jeden Moment unter ihm wegknicken.

Aber das ging nicht.

Das war ein Auftrag des Ordens. Und er konnte und durfte sich nicht noch mehr Blöße vor Lillian und Raik geben. Also drehte er seinen Kopf ein winziges Stückchen nach rechts und schaffte es, durch den Spalt zwischen den Vorhängen hindurchzulinsen.

In der Tür stand ein Mann im schwarzen Anzug.

Konzentriert versuchte Siegfried sich daran zu erinnern, ob er ihn schon einmal gesehen hatte. Irgendwie kam er ihm bekannt vor. Doch das Gehirn des Hexers streikte noch immer – und Raiks bedrohliche Nähe neben ihm, tat ihr Übriges dazu. Nicht zuletzt, weil der Werwolf eine regelrecht unangenehme Hitze abstrahlte. Trotzdem versuchte Siegfried, sich nicht ablenken zu lassen und beobachtete weiter.

Der Geschmack von AscheWhere stories live. Discover now