Tag 2 - Stumme Zeugen (2)

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»Es herrschen chaotische Zustände in den Flüchtlingslagern an der spanischen Südküste. Die Menschen leiden Hunger und Durst. Marodierende Banden plündern und vergewaltigen die armen Migranten, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Europa gekommen sind. Heute Morgen kam es in Cabo del Gata bei der Essensausgabe durch ehrenamtliche Helfer der ZEU zu Rangeleien zwischen den Flüchtlingen. In der Folge wurde eine Massenpanik mit mehreren Toten und Verletzen ausgelöst«, berichtete die Nachrichtensprecherin. Ihr Avatar war maximal Anfang dreißig, schlank, blond, ebenmäßiges Gesicht – so platt und langweilig wie nahezu alle Nachrichtensprecherinnen.

Im Hintergrund zeigten Luftbilder einer Nachrichtendrohne, wie Menschen vor einem ausladenden Gebäude anstanden. In der Mitte der Menschentraube kam Unruhe auf. Die Massen wogten von links nach rechts. Warum, war nicht zu erkennen. Am Ende brach Panik aus. Die Umstehenden versuchten zu fliehen, wurden aber von den anderen blockiert. Die nachfolgenden Szenen waren schockierend und nichts für zarte Nerven. Panisch strömten die Migranten von dem Platz. Drängelten, schubsten und trampelten übereinander hinweg. Wie Tiere, die rein ihrem Instinkt folgten. Nach einigen Minuten war die Fläche verlassen. Aus der Perspektive der Drohne sah man Dutzende verstreuter Körper von Toten und Verletzten auf dem Kopfsteinpflaster liegen. Es waren verstörende Bilder.

Peter stand in der Kaffeeküche beim Dienst und wartete, dass der kochend heiße Soja-Kaffee abkühlte. Zügig schaltete er die News ab und überlegte. Die Bilder gingen ihm nicht aus dem Kopf und er wunderte sich, was die Massenpanik ausgelöst hatte. War das nicht im gleichen Lager, wie der Gangüberfall auf die Familie? War das ein Zufall?

Er wechselte von seinem privaten auf das dienstliche VR-Headset. Ein paar Minuten später leerte er das Getränk und wanderte zum Arbeitsplatz zurück. Kurz darauf umschloss der zugewiesene VR-Seat seinen Körper wie lauwarmes Wasser in einer Badewanne. Sanft tauchte er in die virtuelle Realität des GovNet ein.

»Guten Morgen, Peter«, begrüßte ihn seine dienstliche Jana, die aus rein pragmatischen Gründen genauso hieß, wie seine private. »Du hast dreihundertdreißig neue Nachrichten in deinem Postfach. Soll ich sie für dich beantworten?«

Er stand in seinem VR-Arbeitszimmer. Wie früher bei der Bundespolizei, war es komplett leer mit weißen Wänden und Waschbeton-Pfeilern, ohne Türen oder Fenster. Eine Handvoll Whiteboards und braune Pinnwände waren die einzigen Einrichtungsgegenstände. Eine zweckmäßige Umgebung, um sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Alles andere konnte er sich bei Bedarf einblenden.

»Ja, wie immer. Falls etwas Wichtiges dabei ist, gib mir Bescheid.« Die Begrüßung schenkte er sich. Eine KI war eine Maschine. Mehr nicht. Er hatte in einer Studie gelesen, dass die Umgangsformen der heutigen Kinder verrohten. Als Grund wurde genannt, dass sie viel mit KIs kommunizierten, die nicht eingeschnappt reagierten, wenn man sie ständig anpampte. Nun, das erging ihm ähnlich.

Auch fragte er sich, ob seine Kollegen das mit dem Beantworten der Nachrichten genauso handhabten wie er. Am Ende würden sich dann ausschließlich KIs miteinander über die alltäglichen Dinge ihrer Arbeit austauschen und selbstständig alle Entscheidungen treffen. Zumindest die, die sie nicht für relevant genug erachteten, sie ihren Menschen vorzulegen. Irgendwann, wenn ihm mal ganz langweilig war, würde er sich den Spaß machen und all die Mitteilungen im Postfach persönlich durchlesen und die Antworten der KIs kontrollieren. Aber nicht heute.

»Jana, ich habe gestern etwa um 22:30 einen News-Stream auf MyNews gesehen. Es ging um eine Familie in einem Flüchtlingslager. Angeblich freiwillige Helfer, die von einer Gang angegriffen wurden. Das Ende wurde prognostiziert. Such mir den Clip raus.«

»Natürlich. Ich habe ihn gefunden«, meldete sie unmittelbar und spielte zur Bestätigung die Zusammenfassung auf einem der Whiteboards ab.

»Okay, das ist er. Führe eine Gesichtserkennung für die Familie durch.«

𝗙𝗔𝗞𝗘 𝗣𝗔𝗥𝗔𝗗𝗢𝗫 - Fake News war gestern ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt