Tag 5 - Grenzerfahrungen (3)

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 Jacques

Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Obwohl sie im Schatten des alten ehemals beige gestrichenen Kirchturmes unmittelbar an der Wasserkante hockten, war es brütend heiß. Die Wellen überspülten den eckigen, mit Sand und Schlick bedeckten Vorplatz der Kapelle, der von mannshohen Mauern eingefasst wurde. Das Innere des Kirchenschiffes lag einige Stufen erhöht im Trockenen, außerdem konnte man problemlos durch das Wasser zum felsigen, schattenlosen Ufer waten. Der Wind war gestern leider abgeflaut, sodass das Innere des Gebäudes trotz der Steinmauern zum Backofen wurde.

Das Gotteshaus war für ihn ein Sinnbild des heutigen Europas: Mit hohen Ambitionen erbaut und von der harten Realität im Laufe der Zeit eingeholt. Zu unflexibel, um sich anzupassen und von einer hohen Mauer umgeben, die im Grunde nur zur Dekoration diente.

Ihre Hoffnung, dass der Turm als weithin sichtbare Landmarke, die Schlepper anziehen würde wie frisches Blut die Raubtiere, hatte sich zerschlagen. Es war bereits später Nachmittag des zweiten Tages und sie hockten untätig in der Pampa herum, ohne dass sich ein Boot gezeigt hätte. Hinzu kam, dass Lucas sich langweilte, er wollte zurück in die Stadt, wo er seine Freunde und Spielzeuge wähnte.

»Jacques?«, wandte sich Kara an ihn, die neben ihm saß und eine ihrer wilden Locken aus dem Gesicht blies. »Ich denke, wir sollten zurückgehen. Hier scheint niemand zu kommen und uns geht Wasser und Essen aus. Lass es uns morgen nochmals versuchen.«

Es widerstrebte ihm, aufzugeben, aber leider hatte sie recht. Sie wussten nicht, was sie in der Stadt erwartete und ob es dort Wasser gab, aber hier zu verweilen war auf Dauer keine Option.

»In Ordnung. Ich packe unsere Sachen, dann machen wir uns auf den Heimweg.« Das klang komisch, da sie ihr »Heim« bewusst verlassen hatten und nach Algerien in ihre »Heimat« zurückkehren wollten.

Kurz danach platschten sie durch das flache warme Wasser in Richtung Ufer. Lucas war aufgedreht, da er sich darauf freute, seine Freunde heute Abend wiederzusehen. Sie konnten nur hoffen, dass deren Eltern verantwortungsvoll genug gewesen waren, und sie sich zum Zeitpunkt der Schüsse nicht mehr in der Nähe der Grenzanlage befunden hatten.

Aus Richtung der spitzen Berge erklang leises Dröhnen und Kreischen. Sie bedeckten ihre Augen und schauten in den Himmel. In der Höhe erkannten sie sechs dreieckige Militärflieger, die als Staffel scheinbar gemächlich die Küste entlang zogen. In Zeiten, da es kaum noch große Flugzeuge gab, ein ungewohnter Anblick.

»Papaaa, Flugzeuge!«, kreischte Lucas begeistert.

Einen Moment später bildete sich ein eisiger Klumpen in seinem Magen. Aus den Bäuchen der Flieger fielen unzählige längliche Schatten wie die abgebrochenen Spitzen von Zahnstochern. Bomben? Die Maschinen waren längst über sie hinweggezogen, daher hoffentlich weit genug weg, aber Cabo del Gata lag in etwa unter ihnen.

»Jacques?«, fragte Kara mit vibrierender Stimme und griff nach seiner Hand. »Denkst du ...?«

»Ich weiß es nicht.«

Der weitgefächerte Bombenteppich näherte sich scheinbar in Zeitlupe dem Boden. Er hielt die Luft an. In der Entfernung legte sich ein dichtgewebtes Netz aus winzigen, aufblitzenden weißen Punkten über die Landschaft. Grellgelbe, rote und orangene Blütenkelche öffneten sich geräuschlos in den Himmel. Ein tiefes Grollen und Donnern wie bei einem Gewitter folgte Sekunden später. Gemächlich stiegen tiefschwarze Rauchpilze in die Höhe, die von innen heraus in einem düsteren Rot erglühten.

»Uiii, bumm!«, kommentierte ihr Sohn das Geschehen in seiner kindlichen Unbekümmertheit.

»Denkst du ...«, Jacques stockte erschüttert. Ihm fehlten die Worte. »War das bei Cabo del Gata?«

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