Kindheitstrauma und eine Laterne

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Den Apfelbaum hatte man gefällt.

*Lilly*

- 8 Jahre später-

Es war dunkel, und ich war übermüdet. Mit schweren, langen Schritten, ging ich die schmale Seitengasse entlang. Es war Samstagmorgen und ich sehnte mich nach einem Bett, doch die Flucht aus meinem Elternhaus ließ mich schon seit geraumer Zeit durch die kleinen Gassen der Nachbarschaft wandeln, ziellos und völlig erledigt. Ich kämpfte damit, meine Augen offen zu halten.

Der Himmel war von grauem Schleier bedeckt. Bald würde die Sonne aufgehen. Doch es war kalt. Bitterkalt. Ich fror erbärmlich. Meine Zehen waren schon fast taub. Da begann es auch noch zu schneien. Winzige, kleine Schneeflocken fielen vom Himmel. Sie benetzten meine dunkle Kleidung, meine braunen, strohigen Haare, meine langen Wimpern und die von der Kälte erröteten Wangen und hinterließen kleine, kalte Wassertropfen in meinem Gesicht.

Schnell stopfte ich meine langen Haare in meinen Pullover. Ich zog mir meine schwarze dünne Jacke enger um meinen schlanken Körper und stülpte mir meine Kapuze über den Kopf. Doch es half nichts, hart schlugen meine Zähne aufeinander und erzeugten ein rhythmisches Klappern. Tief atmete ich ein, die Kälte brannte in meinen Lungen. Ich mochte die Morgenstunden, sie waren ruhig und friedlich. Das einzige laute Geräusch machten meine schweren Stiefel im knirschenden Schnee. Meine gleichmäßigen Schritte beruhigten mich etwas. 

Vor mir tauchte ein heruntergekommenes Haus auf, die Farbe des Gartenzauns blätterte bereits ab. Doch ich wusste, welche Farbe er gehabt hatte. Ich zitterte. Meine Finger strichen leicht, ganz vorsichtig darüber. In Gedanken versunken blieb ich stehen. Mein Blick verschwamm. Angestrengt versuchte ich Luft in meine Lungen zu pressen, zwang mich regelrecht zum weiter atmen.

Die Silhouette eines abgestorbenen Baumstammes brannte sich wie Feuer in meine Augen. Zum zweiten Mal an diesem Tag schüttelte ich meinen Kopf in dem Versuch, die Gedanken auszuradieren. Kurz zögerte ich, wie jede Nacht, doch dann machte ich auf dem Absatz kehrt. Ich brachte es nicht über mich, diesen Weg zu gehen, seit Jahren. Ich war so verdammt Feige. Schließlich nahm ich den langen Umweg durch den Park, zurück in meine persönliche Hölle.

Ich schloss die Tür meines Elternhauses auf und ging so leise wie nur möglich nach oben in mein Zimmer. Es war schlicht eingerichtet. Die Wände waren in einem dunklen Türkis gestrichen und hatten oberhalb, ein paar Zentimeter von der Decke entfernt, eine kleine schwarze Borte. Ein winziges Bett aus Holz, ein altes braunes Bücherregal, welches fast unter seiner Last zusammen zu brechen drohte, ein Schrank, welcher beim Öffnen ein knarzendes, nervtötendes Geräusch abgab und ein kleiner altmodischer Schreibtisch, direkt unter meinem winzigen Fenster. Ein kleiner Kaktus und eine Schneekugel thronten darauf. Seufzend schloss ich meine Tür ab und streifte mir meine nassen Schuhe von den Füßen.

Ich ließ mich voll bekleidet in mein Bett fallen und überlegte kurz, so liegen zu bleiben. Doch mein Kopf machte mir einen Strich durch die Rechnung. Diese verdammten Kopfschmerzen. Übermüdet rappelte ich mich wieder hoch. Mein Griff ging routiniert zur Schublade meines Schreibtisches. Sie klemmte leicht, doch mit etwas Gewalt ging sie schließlich auf. Mit kalten Fingern griff ich nach der fast leeren Packung, übte Druck mit meinem Finger auf die dafür vorgesehene Stelle aus und schon hatte ich die kleine weiße Tablette in der Hand.

Ohne Wasser schluckte ich sie herunter, sie kratzte leicht in meinem Hals, dann legte ich die Schachtel mit den Medikamenten anschließend in meine Schublade zurück. Leise seufzte ich. Langsam zog ich mir meine völlig durchnässte Jacke von den Schultern und hängte sie zum Trocknen über meinen grauen Plastikstuhl. Ich ließ mich schwerfällig auf diesen fallen.

Nachdenklich blickte ich hinaus auf die einsam leuchtende Straßenlaterne. Sie stand auf der anderen Straßenseite und erhellte spärlich den engen Fußgängerweg. Es hatte aufgehört zu schneien. Der frühe Morgen war leer, leer von Menschenmassen und Alltagsgeräuschen. Ich schloss meine Augen. Gleichmäßig atmete ich ein und aus. Ich hörte meinen Herzschlag. Rhythmisch und leise. Endlich entspannte ich mich ein wenig. Meine Schmerzen verebbten.

Langsam hievte ich mich abermals hoch, doch dann blieb mein Blick an der Straßenlaterne haften. Dort stand jemand. Ich kniff meine Augen zusammen, doch ich konnte nicht viel erkennen. Eine Gestalt, vollständig in Schwarz gehüllt stand wie erstarrt da. Unauffällig und langsam versuchte meine Hand die kleine graue Gardine meines Fensters beiseitezuschieben. Neugierig blickte ich hinaus. Als hätte die Person gespürt, dass sie beobachtet wurde, setzte sie sich in Bewegung. Es waren geschmeidige, gleichmäßige, ja fast anmutige Schritte. Die Person war trotz dessen definitiv männlich.

Auf einmal stockte sie, kurz bevor sie den Park erreichte, drehte sich um und starrte hinauf zu meinem Fenster. „Oh Himmel", murmelte ich. Das durfte doch nicht wahr sein. So schnell wie nur möglich duckte ich mich hinter meinen Schreibtisch, machte mich so klein wie ich nur konnte. Ich kniff meine Augen zusammen und ärgerte mich über meine Neugier. Wie konnte ich nur so dumm sein? Doch ich konnte es nicht lassen. Langsam lugte ich mit meinem Kopf ein zweites Mal zum Fenster.

In diesem Moment setzte er seinen Weg fort. Meine Augen folgten ihm, bis ihn die Dunkelheit verschluckte. Ich wartete einen Augenblick, hoffte, ihn vielleicht nochmals zu erspähen, doch vergeblich. Resigniert gab ich auf, strich meine muffige Gardine zurück an ihren Platz und schlürfte endgültig ins Bett.

Meine Gedanken schweiften noch lange zurück zu dem Mann, welcher meine Neugier geweckt hatte, solange, bis mich der Schlaf erreichte und mir meine Augenlieder vor Erschöpfung zufielen.

Zwischen den WeltenWhere stories live. Discover now