Das Gefühl des Ertrinkens

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Meine Gedanken schweiften noch lange zurück zu dem Mann, welcher meine Neugier geweckt hatte, solange, bis mich der Schlaf erreichte und mir meine Augenlieder vor Erschöpfung zufielen.

*Lilly*

Erschöpft lief ich heute zum dritten Mal durch den Park. Meine Füße schmerzten in den viel zu kleinen abgenutzten Stiefeln. Resigniert setzte ich mich im Schneidersitz auf die abgenutzte, grüne Parkbank. Vor mir war ein kleiner Tümpel, indem sorglos zwei Enten schwammen. Anmutig zogen sie ihre Kreise und putzten ihr dichtes Gefieder. Sanft schlugen sie kleine Wellen im trüben Wasser. Die Sonne schien hoch am Himmel. Keine einzige kleine Wolke war zu sehen. Sonnenstrahlen kitzelten in meiner, von Sommersprossen bedeckten Nase. Viele verschiedene Menschen liefen an mir vorbei. Eltern mit ihren Babys. Ein altes Ehepaar. Spielende, vor Freude jauchzende Kinder. Eine hochgewachsene, blonde Frau mit ihren beiden lockigen, tollpatschigen Hundewelpen.

Wieso konnte mein Leben nicht mehr so unbeschwert sein? Was war nur falsch mit mir? Wieso konnte ich die Vergangenheit nicht einfach abhaken wie eine Einkaufsliste? Meine Gedanken schweiften ab. Ich hatte mit niemanden darüber geredet, keiner wusste, welche Stürme permanent in mir wüteten. Und dieser Schmerz, tagtäglich wurde ich an ihn erinnert. Auch jetzt zog sich mein Herz schmerzlich zusammen als ich an den Tag zurück dachte, welcher alles verändert hatte. Welcher meine Welt aus den Fugen gerissen hatte und mich immer tiefer in den Abgrund stieß. 

Wir waren Kinder gewesen. Spielende, Lachende, Glückliche Kinder. Die Welt lag uns zu Füßen.
Wir waren sorglos. Ohne Reue, ohne Angst. Aber ich war unsagbar wütend gewesen. Wütend, traurig und gekränkt. Sam hatte mir mit Absicht meine kleine, wunderschöne weiße Schleife abgerissen. Er hatte mich angegrinst und die Schleife in eine Pfütze voller Matsch und Dreck geworfen. Damals, als Kind, war es für mich eine unfassbare Katastrophe. Ein Weltuntergang. Jetzt war ich älter und ärgerte mich selbst über mein Verhalten. Über meine Emotionen. Ich vermisste ihn. Er war mein bester Freund gewesen. Ich seufzte. Ich hätte nicht so die Fassung verlieren sollen. Man merkte erst, was einem fehlt, wenn es fort war. Es war nur eine blöde Schleife gewesen, doch sie hatte meine jahrelange Freundschaft zu Sam zerstört. Eine weiße, kleine Schleife an meinem roten Turnschuh, welcher diesen lauschigen Sommertag in einen Albtraum verwandelt hatte.

Ich atmete tief ein und aus. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte ihn nie kennengelernt. Was wäre gewesen, wenn? Diese Frage spukte mir seit Jahren durch den Kopf. Zu gern hätte ich gewusst, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich Sam nie kennengelernt hätte. Wenn ich einen anderen besten Freund kennengelernt hätte, vielleicht nicht in der Nachbarschaft aber vielleicht in der Schule? Wenn er nicht mit seinem Vater in das leerstehende Haus gegenüber meiner Oma gezogen wäre. Wenn sie sich an einem anderen Ort niedergelassen hätten. Weit weg von mir. Wenn ich ihn damals nicht scheu angelächelt hätte und er mir daraufhin zwei Tage später keine bunt verzierte Einladung mit kleinen blauen Autos aus Papier zum Spielen in den Briefkasten geschmissen hätte. Wenn wir uns nie angefreundet hätten. Doch ich war ein Kind, ich sehnte mich nach Nähe, nach Freundschaft, nach Liebe und dem Gefühl endlich verstanden zu werden.

Ich vermisste ihn, tagtäglich, mit jeder Faser meines Herzens und doch wusste ich, dass er nie zu mir zurückkehren würde. Was wäre gewesen, wenn mein Leben eine andere Richtung eingeschlagen hätte? Wenn meine liebenswerte, leicht naive Mutter nicht ausgezogen wäre, wenn sie mich nicht im Stich gelassen hätte, sie mich mit sich genommen hätte, wenn mein Vater nicht ein Jahr später seinen Job in der Textilfabrik verloren hätte und wenn Oma, mein einziger Fels in meiner tosenden Brandung nicht an einem verdammten Schlaganfall gestorben wäre. Wenn ich das Glück gehabt hätte, in einer anderen Familie aufwachsen zu können. Doch damit war ich nun mal nicht gesegnet worden. Ich hatte mein eigenes Los gezogen. Ein Los, mit dem ich lernen musste zu leben.

Als Kind dachte ich, es wäre großartig einen Freund zu haben. Einen besten Freund, so wie Sam Larsen es für mich gewesen war, dem ich alles hätte erzählen können, mit dem ich alles hätte erleben können, mit dem ich hätte gemeinsam aufwachsen können, mit dem ich die Welt hätte einreißen können. Doch damals wusste ich noch nicht, das Sam nur der Anfang war. Der Anfang meines nie enden wollenden Alptraumes. Ein Alptraum, welchen ich mittlerweile mein Leben nannte. Je älter ich wurde, desto mehr fing mein Bild von einer heilen Welt, von Freundschaft, von Familie und von Liebe an, Risse zu bekommen. Tiefe, niemals wieder heilende Risse. Ich wünschte mir oft, jemand anderes zu sein, nur um meinem Leben ein paar Minuten zu entfliehen. Erlösung zu finden, von all dem Schmerz, dem Hass und den Selbstzweifeln tief in mir. Ich konnte meine ganze Situation, mein verkorkstes Leben und die schreckliche Wendung, welches es genommen hatte, nicht mehr verkraften. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen.

Ich wünschte mir einen Freund, dem ich alles erzählen könnte. Ich litt, jeden Tag, mit jeder Faser meines Körpers, doch das hatte ich verdient. Das redete ich mir zumindest ein.

Zwischen den WeltenWhere stories live. Discover now