Blutende Seele

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*Erzähler*

Nachdem Lilly leise die Haustür aufgeschlossen hatte, betrat sie mit lautlosen Schritten den kleinen dunkel gestrichenen Flur ihres Elternhauses. Sie wagte nicht zu atmen und gab keinen Mucks von sich,  zu groß war ihre Angst, er könnte wach sein und wütend auf sie warten. Ihre Atmung ging flach. Die kleine Deckenlampe spendete ihr nur geringfügig etwas Helligkeit. Sofort wurde sie vom ekelhaft, beißenden Geruch der zahlreichen leeren Alkoholflaschen auf dem dreckigen Tisch und dem in der Luft waberndem Zigarettenrauch aus dem Wohnzimmer begrüßt.

Sie seufzte und bereitete sich mental auf das Schlimmste vor, als sie bemerkte, dass ihr Vater schon auf sie wartete. „Du bist spät", knurrte dieser Lilly an und schwankte gefährlich auf sie zu.
Die blanke Angst packte Lilly, hielt sie eisern gefangen, schnürte ihr die Luft in den Lungen ab und machte das Atmen unmöglich. Dann traf sie die Erkenntnis, welche wie ein Blitz durch ihren Körper jagte. Sie hatte die Flaschen Alkohol vergessen, welche sie mitbringen sollte. Sie hatte gerade höchstpersönlich ihr Todesurteil unterschrieben.

„Du weißt doch, wie wichtig es ist, dass ich pünktlich Nachschub bekomme", wütend sah er sie an. Ihr letzter, kleiner Funken Hoffnung erstarb. Innerlich wusste Lilly, dass es wieder einer dieser Tage werden würde. Ein weiterer Tag, an dem ihre Seele tausend Tode sterben würde, an dem sie wieder keinen erholsamen Schlaf finden würde. Sie versuchte ruhig zu bleiben und versicherte ihrem Vater, das sie ihn nicht verärgern wolle, dass sie sofort morgen früh neuen Alkohol für ihn besorgen würde. Doch vergeblich. Verachtend sah er sie an und ließ seinen Blick über Lillys zitternden Körper wandern. Den Blick spürend, verschränkte sie ihre dünnen Arme vorsichtig vor ihrer Brust. Grinsend bleckte er ihr seine vergilbten Zähne entgegen.

Ein Schauer des Ekels bildete sich auf Lillys junger, zarter Haut. Verursachte einen unangenehmen Geschmack in ihrem Mund. Sein Blick verfinsterte sich. „Du bist genauso nutzlos wie deine Mutter es all die Jahre gewesen war", schrie er in ihr Gesicht. Es war einer dieser Nächte für sie, eine weitere Nacht in der die Zeit für Lilly stillstand. In dieser verlor sie endgültig. Gegen ihn und gegen sich selbst. Ihrem verwundeten Herzen wurde ein weiterer schmerzhafter, tiefer Schnitt hinzugefügt. Sie hatte verloren.

Ihre Mutter war ihr Ein und Alles gewesen. Doch aus sie hatte Lilly verlassen. Sie konnte ihr das Verhalten nicht verzeihen. Sie hatte sie einfach bei ihm zurückgelassen. Bei diesem Monstrum.
In ihren Augen war er nicht mehr ihr Vater. Diesen Status hatte er vor vielen Jahren verloren, als er anfing ihr die Schuld an seinem miserablen Leben zu geben, an seiner gescheiterten Ehe, an seiner fristlosen Kündigung, an dem Berg Schulden, an dem riesigen, nicht enden wollenden Scherbenhaufen seines erbärmlichen Lebens. Als er anfing in ihr das Ebenbild seiner verlorenen Liebe, Lillys Mutter, zu sehen. Als er anfing, all die schrecklichen Dinge mit Lilly zu tun, welche er mit ihrer Mutter getan hatte.

Und das war einer der Momente, indem Lillys Augen Tag für Tag, Stückchen für Stückchen an Leuchtkraft verloren, als ihre junge, verwundete Seele ein weiteres Mal Höllenqualen litt.
Als sie schmerzlich erkannte, dass das Wort Familie für sie an Bedeutung verloren hatte. Und als sich in diesen nicht enden wollenden Nächten ein grausiger Gedanke bei ihr festsetzte. Sie wollte, dass ihre Geschichte endgültig ein Ende nahm. Dass die Geschichte mit ihr endete. Sie konnte und würde das Leben, welches sie lebte, nicht mehr hinnehmen. Sie würde einen Ausweg aus ihrer ganz persönlichen Hölle suchen.

Sie wurde ihre verblutende Seele endlich selbst heilen.

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