Mysterien

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Ich würde seinen Rücken sehen.

*Lilly*

Wie gebannt verfolgte ich ihn mit meinen Augen. Seine Drehung war langsam und anmutig. Sein Kopf war trotzig und stolz geradeaus gerichtet. Seine Atmung war ruhig doch sein Körper war immer noch angespannt. Ich hörte meinen eigenen Herzschlag in den Ohren. Nervös zitterten meine Hände. Ich war hin und hergerissen. Zugern würde ich Recht haben wollen, doch innerlich wollte ich seine Wunden nicht aus der Nähe sehen. Sie sahen für mich schon von der Ferne schlimm aus. Nur die Erinnerung an das Gesehene ließ mich frösteln. Ich schauderte. Doch nun gab es kein Zurück mehr. Ich würde es endlich erfahren. Ein kleiner Teil in mir wünschte sich, das ich mir das alles nur eingebildet hatte, die tiefen Furchen auf seiner wunderschön weich aussehenden Haut, das viele Blut, welches rhythmisch auf den Boden tropfte. Und diese elende Trauer, diesen Schmerz, in seinen von Leid gezeichneten meerblauen Augen, als er mich gesehen hatte.

Ash schien still vor mir, doch er atmete angespannt. Mein Blick brannte sich in seinen Rücken. Ich würde eine Münze verwetten, dass er es bemerkte. Ich ging einen Schritt auf ihn zu.
„Bist du nun zufrieden?", erklang seine Stimme gepresst. In diesem Moment war ich wirklich froh darüber, dass wir uns nicht sehen konnten. Meine Nervosität viel schlagartig von mir ab. In seiner Stimme lag kein Anzeichen von Wut, Angst oder Unsicherheit. Sie war einfach kalt und angespannt. Seine Worte durchbrachen die kurze Stille zwischen uns, doch war ich ihm dankbar das er mich nicht mit Schweigen strafte. „Wo sind die Wunden, die tiefen Schnitte?"

Ich war so verwirrt. Ich hätte schwören können, dass ich mir das nicht ausgedacht hätte und doch wurde ich eines Besseren belehrt. Sein Rücken war makellos. Seine Rückenmuskulatur war atemberaubend und sie stand ihm fantastisch. Es war genau die richtige Balance zwischen seiner Statur und seinem Wesen. „Ich sagte doch, das ist Irrsinn." Er drehte sich wieder zu mir um und fing meinen Blick mit seinen Augen ein. Diese waren klar wie das Wasser, doch tief in ihnen verborgen waren Leid und Pein. Die schwarzen kleinen Flecken schimmerten wie Sterne in der Nacht. Sie waren so verdammt fesselnd. Er bückte sich, um sein Shirt vom Boden aufzuheben. Kurz beobachtete ich das beeindruckende Spiel seiner Muskeln unter seiner Haut.

Ich startete einen zweiten Versuch, räusperte mich kurz und fasste wieder einen klaren Gedanken. So leicht würde ich nicht aufgeben. „Was ist mit der versehentlichen Berührung, als ich dir die Kaffeetasse abnehmen wollte? Du hast den Schmerz genauso gespürt wie ich, ich habe es dir angesehen. Versuche nicht, es zu leugnen." Er wollte sich gerade das Shirt über den Kopf ziehen, hielt nach meiner Frage aber in seiner Bewegung inne. „Und wie willst du diese These nun testen?" Er zog eine Augenbraue empor. Er klang belustigt und kam einen Schritt auf mich zu. Kurz atmete ich unauffällig seinen hinreißenden Duft ein und räusperte mich ein zweites Mal. Er sah auf mich hinunter, ein leichtes Grinsen schlich sich auf seine Lippen. Er deutete auf seinen Oberkörper. „Nur zu, keine Scheu. Aber ich leugne nicht, dass es mir vorhin nicht genauso weh getan hat wie dir." Und dann grinste er. Ich hatte nicht gedacht, dass er so breit grinsen konnte, doch es war das erste Mal, das ich ihn so unbeschwert wahrnahm.

Ich war so hin und hergerissen. Mein Körper sehnte sich danach, ihn zu berühren. Doch in meinem Kopf war der gleißende Schmerz unserer Berührung noch gut gespeichert. Nur der Gedanke daran ließ mich zusammenzucken.
Abwartend, ja fast vergnügt ruhten seine Augen auf mir. Er schien jetzt entspannt zu sein. So als wüsste er genau was passieren würde, dass er diese Situation unter Kontrolle hatte, dass er gewinnen würde. Das ich ihn nicht nochmals berühren würde. Doch würde ich mich mit einer zweiten Niederlage zufriedengeben, wenn ich es nicht ausprobierte? Wenn ich nicht die Chance wahrnahm, welche er mir bot? Vielleicht hatte ich nie wieder die Gelegenheit dazu. Innerlich wusste ich, dass er anders war, anders als jeder andere, den ich kannte. Er war so verdammt mysteriös, so unergründlich und verschlossen. Und verdammt anziehend. Ich wollte seine Geheimnisse lüften, seine Mysterien. Alle. Ich wollte ein Teil von ihm sein.

Und so streckte ich zaghaft meine Hand aus, gewillt seine Haut erneut zu berühren.

Zwischen den WeltenWhere stories live. Discover now