#11 Eine Wanderung machen [Teil 2]

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Jay hatte nicht zu viel versprochen. Der Ausblick, den man von oben genoss, war die Mühe des Aufstieges definitiv wert. Wir hatten uns auf eine Bank am Aussichtspunkt gesetzt - von dort hatte man einen Blick über die ganze Stadt. Die Autos, die sich durch die Straßen schlängelten, erinnerten von hier oben an Ameisenstraßen, die sich durch die Natur bewegten. Ansonsten konnte man kaum Bewegungen deuten. Es wirkte eher so wie ein Landschaftsgemälde, das in Herbstfarben erstrahlte. Die bunten Dächer, eines neben dem anderen, wirken wie ein großes Mosaik, wo sich alles perfekt zusammenfügte.

Die Sonnenstrahlen drangen durch die schon etwas blattlosen Baumkronen und wärmten sanft mein Gesicht. Ich lehnte mich zurück, schloss meine Augen und versuchte den Moment in meinen Erinnerungen abzuspeichern, als ob ich auf den Auslöser meiner mentalen Kamera drücken würde.

"Schon komisch, dass man etwas, das man in einem Moment so sehr genießt, oft im nächsten schon wieder vergessen hat."

"Hmm?"

Ich spürte Jays Blick auf mir, hielt meine Augen aber weiter geschlossen.

"Das hier zum Beispiel. Ich merke erst jetzt wieder, wie gut es tut, mich in der Natur zu bewegen, abseits vom Trubel. Ich liebe, wie friedlich alles wirkt und genieße die Ruhe hier oben. Trotzdem habe ich es all die Zeit gemieden."

"Du hattest deine Gründe..."
"Ja, aber irgendwie auch nicht. Als meine soziale Phobie ihren Höhepunkt erreicht hatte, war ich nicht mehr in der Lage, das Haus zu verlassen, ja. Aber spätestens nachdem ich diese Hürde wieder nehmen konnte, hätte ich hierher kommen können. Menschenmassen werde ich hier sicher nicht antreffen. Und außerdem ist es viel ruhiger als es zu Hause je hätte sein können. Dort verstecken sich in jeder Ecke Erinnerungen... unerträglich laute Erinnerungen, die immer wieder kommen... und von denen es dort kein Entkommen gibt."

"Guess my mind is a prison and I'm never gonna get out...", sang Jay die Songzeile eines meiner Lieblingssänger leise vor sich hin.

"So in der Art, ja." Ich lächelte nachdenklich und schaute zu Jay, der ebenfalls in Gedanken schien.

"Aber hier... egal wohin man schaut, überall gibt es so viel zu entdecken, da haben solche Gedanken gar keinen Platz."

"Bei mir ist es genau andersrum. Wenn ich an so einem Ort bin, werden meine Alltagsgedanken ganz leise und dann räume ich bewusst den wichtigen Gedanken Platz ein. Ich finde solche Orte perfekt zum Nachdenken."

"Und woran denkst du gerade?"

Grinsend antwortete er: "Daran, dass wir uns erst vor einem knappen Monat das erste Mal getroffen haben und doch habe ich das Gefühl, als ob wir uns schon ewig kennen würden."

"Geht mir auch so!", gestand ich. "Ich kann mich tatsächlich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal jemanden Neues kennengelernt habe..."

Wenn ich so darüber nachdachte, dann waren das vermutlich meine Arbeitskollegen. Aber die kannte ich nicht wirklich, wenn man bedachte, dass ich außer ihren Namen vielleicht gerade einmal wusste, ob sie verheiratet waren oder Kinder hatten. Die meisten Personen aus meinem Umfeld kannte ich von früher oder aber aus der Schule. Der letzte, den ich richtig kennengelernt hatte, wäre... Nein, ich verschwende keine Gedanken mehr an ihn, tadelte ich mich.

"Ich verstehe aber, was du meinst. Aber ich mag es in letzter Zeit nur nicht mehr so, meine Gedanken schweifen zu lassen. Ich habe in den letzten Monaten oft zu viel nachgedacht, was teilweise sehr kräftezehrend war. Ich dachte ständig daran, was andere wohl über mich dachten. Ich bekam Angst vor der Antwort darauf und begann deshalb mich zurückzuziehen. Es war einfacher, es nicht zu wissen und die Konfrontation zu vermeiden. Es wurde zu einem Teufelskreis." Ich merkte, wie sich Gedanken an meinen ehemaligen Freundeskreis anbahnten, aber ich verdrängte sie gekonnt. Mit diesen Erinnerungen hatte ich abgeschlossen. Nach der öffentlichen Demütigung stellte sich heraus, wer meine wahren Freunde waren. "Hannah war die einzige, die stets an meiner Seite blieb. Es war nicht immer leicht mit mir in letzter Zeit, aber sie hat mir stets den Arschtritt verpasst, den ich gebraucht hatte und gleichzeitig hat sie mich nie zu etwas gedrängt, für das ich noch nicht bereit war. Sie ist die beste Freundin, die man sich nur wünschen könnte."

"Es tut mir leid, dass du diese Erfahrung gemacht hast. Aber ich freue mich, dass du jemanden hattest, der dir bei all dem zur Seite stand." Jay lächelte sanft, aber sein Lächeln erreichte seine Augen diesmal nicht.

"Sorry, dass ich dich so voll labere..."

"Ach was!", unterbrach er mich. "Ich finde es schön, dass du darüber sprechen kannst. Und...", er grinste verlegen, "ich finde es schön, dass du mit mir darüber sprichst."

Auch mir huschte ein verlegenes Lächeln übers Gesicht. Es beruhigte mich zu wissen, dass ich mit ihm darüber sprechen konnte und es war ein schönes Gefühl, dass er sich tatsächlich für mich zu interessieren schien.

"Und wie sieht es bei dir aus? Hast du einen großen Freundeskreis?"

"Ja, schon irgendwie. Aber es ist anders als bei dir und Hannah. Ich habe Kumpels, mit denen ich was unternehme. Oder wir gehen zusammen feiern. Aber so richtig eng sind wir eigentlich nicht... Dafür sind wir viele." Er zuckte mit den Schultern und lachte auf. "Ich hatte Mal sowas wie einen besten Freund, so ähnlich wie bei dir und Hannah, aber... Naja, es wurde kompliziert." Er schien zu überlegen, ob er den Satz beenden sollte. Da ich ihn zu nichts drängen wollte, wartete ich geduldig.

"Um es kurz zu machen, heute ist er mein Ex."

"Oh!", rutschte es mir heraus.

"Jap!", lachte er. "Wir sind zwar im Guten auseinander, aber die Freundschaft war trotzdem nicht mehr das, was sie war."

"Scheiße!"

"Ja, aber ich bereue nichts. Er war mein erster fester Freund und durch ihn wurde mir bewusst, dass ich auf Mädchen UND Jungs stehe. Eine Erkenntnis, für die ich sehr dankbar bin."

"Ich auch!", brachte ich keck hervor, doch schon kurz danach verließ mich mein angesammelter Mut wieder und ich wandte den Blick ab. Dennoch reichte es aus, um auch meinen Gesprächspartner etwas in Verlegenheit zu bringen. Zufrieden grinste ich in mich hinein.

Eine Weile saßen wir noch stumm nebeneinander und genossen den Ausblick. Schließlich war Jay es, der irgendwann die Stille durchbrach.

"Wie sieht's aus, bist du bereit für deine Überraschung?"

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