zurück nach Hause

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Es war ein frostiger Wintermorgen und das bläuliche Licht der Frühe schien durch die halbgeöffneten Vorhänge, als der Wecker zu klingeln begann. Ein schriller Ton, welcher jeden normalen Menschen sofort zu der Kurzschlussreaktion gebracht hätte, jenes Fenster zu öffnen und den Wecker einfach darüber hinaus zu entsorgen.
Doch war Xie Lian wohl nicht einer dieser normaler Menschen und so behielt er wie immer seine innere Ruhe und schaltete den Ohrenbetäubenden Lärm mit einem kleinen Tippen aus.
Es war ein Freitag 7:00 Uhr. Xie Lian hatte alle Müh seine Augen offen zu halten und trotz der nicht mehr als 4h Schlaf den ihm diese Nacht gönnte, wieder in die Sicherheit seines Bettes zu versinken.
~Heute ist der letzte Tag. Heute Nachmittag komme ich endlich hier raus.~
Xie Lian befand sich nun seit bereits 44 Tagen in einer Klinik für Jugendliche mit diversen psychischen Problemen. Von Essstörungen bis hin zu Schizophrenie wurde hier alles behandelt. Das Ziel war es, den jungen Erwachsenen den Umgang mit ihren Problemen zu erleichtern und gewisse Methoden für das zukünftige Leben mitzugeben, durch die sie eben diese besser bewältigen könnten.
Viele der Patienten waren freiwillig her gekommen um sich Hilfe zu suchen im Gespräch mit den Therapeuten. Doch Xie Lian gehörte zu den wenigen die auf Zwang eingewiesen wurden um von professionellem Personal überwacht zu werden. Kein Wunder also, dass er es kaum erwarten konnte wieder nachhause zu gelangen.
Während der Zeit in der Klinik hatte Xie Lian das Gefühl, in seinem Leben nur auf eine weitere Blockade gestoßen zu sein. Auf einen weiteren Stein der sich ihm in den Weg legte um noch eine Chance zu haben irgendwie doch voran zu kommen und alles erlebte hinter sich zu lassen. Denn die Hoffnung dass ein Fremder ihm noch helfen könne, hatte er schon vor langer Zeit aufgegeben.
Entsprechend dieser Einstellungen hatte sich während seines Aufenthaltes auch nicht viel zum Positiven verändert. Im Gegenteil, zwar hatte er keine Möglichkeit mehr sich selbst Schaden zuzufügen, doch hatte dies als Ausgleich den Effekt dass sich dieses Gefühl unendlicher Verlorenheit in dieser Welt nur immer weiter direkt in seine Seele bohrte.
Durch die gezwungenen Abgabe seines Handys verlor er zudem noch den Kontakt zu seinem einzigen richtigen Freund und in ihm blieb nur noch das Gefühl von Einsamkeit zurück.
Xie Lian hoffte inständig das Shi QingXuan ihm seine lange Abwesenheit nicht zu übel nehmen würde, da er zuvor nicht die Möglichkeit gehabt hatte ihm zu sagen wo er die nächsten 1,5 Monate verbringen würde. Geschweige denn, dass er überhaupt eine Ahnung gehabt hätte, wie er ihm irgendetwas von diesen Geschehnissen erzählen sollte.
In Gruppengesprächen war dieses Gefühl umso stärker. Xie Lian fühlte sich immer am verlassensten wenn er sich in einer großen Gruppe von Menschen aufhielt. Außerdem hatte er nicht das Ziel, irgendwelche Freundschaften mit Leuten zu schließen, die genau die gleichen Probleme hatten wie er. Denn er war reflektiert genug um zu wissen, dass ihn dies nicht aus seinem Loch heraus, sondern nur noch weiter hineinziehen würde.
Nach weiteren zehn Minuten, tief vergraben in seiner weichen Mint gefärbten Bettwäsche, schaffte er es endlich sich links herum aus dem Bett zu rollen und kam mit einem lauten Donnern auf dem laminierten Fußboden auf.
Sein Zimmer hatte den typischen Anschein einer kleinen Gefängniszelle. Ein mittelgroßes Bett unter einem Fenster an welchem von außen Gitter befestigt waren, obwohl es sich nicht einmal von innen öffnen lies.
Senkrecht zum Bett stand ein kleiner Schreibtisch auf dem sich seine Therapie Unterlagen befanden, die Schulsachen sowie eine Kopie von Dostoevskys „White Nights" , die er erst zwei Tage zuvor beendet hatte. Auf der Gegenüberliegenden Seite stand ein mickriger Kleiderschrank mit der nötigsten Ausstattung.
Xie Lian erholte sich mit einem lauten Stöhnen von seinem Sturz und rappelte sich dann mühselig auf. Schleppenden Gangs bewegte er sich Quer durch das halbdunkel des Zimmers in das kleine angebaute Badezimmer und Wurf sich brutal einige Hände eiskalten Wassers in das noch von Schlaf trunkene Gesicht.
Seine nassen Haarsträhnen baumelten ihm über die Stirn und er entschied sich seine mittellangen Haare mit einem weißen Band, welches er einmal von seiner Mum geschenkt bekommen hatte, zur Hälfte hochzubinden, um sie möglichst gut aus den Augen zu haben. Das kalte Wasser zeigte allmählich seine Wirkung und Xie Lian fühlte sich zunehmend wacher. Schnell strich er sich noch etwas Vaseline auf die Lippen, da er in letzter Zeit zur Dehydration neigte, jedoch nicht wollte dass die Ärtzte wieder dachten er würde zu wenig Flüssigkeit zu sich nehmen.
Anschließend schlüpfte er schnell in einen weißen flauschigen Hoodie und zog sich eine beige Stoffhose über. Wie das in einer Klinik so war, blieben den Füßen natürlich nur Hausschuhe übrig.
Xie Lian musste sich beeilen, das Frühstück ging von 7:00 bis 7:30 Uhr und es war bereits 7:20 Uhr. Allzu eilig hatte er es jedoch nicht, da er sich sowieso immer weigerte sonderlich ausführlich zu frühstücken.

Gute fünf Minuten später kam er endlich im nun fast leeren Frühstückssaal an und holte sich eine Tasse Kaffe vom Automaten um auch die letzten Spuren der kurzen Nacht hinter sich zu lassen.
„Xie Lian, willst du dich etwa wieder aus dem Staub machen ohne vorher einen Bissen gegessen zu haben? Nur weil heute dein letzter Tag ist heißt dass nicht, dass du direkt alles vergessen sollst was wir dir hier nahegebracht haben."
So kam es von der Gegenüberliegenden Seite des langen Saals von Lisa einer freundlichen aber doch ziemlich aufdringlichen Schwester.
„Tut mir Leid Lisa! Ich hatte nur verschlafen und Angst ich würde es nicht rechtzeitig zu meinem Entlassungsgespräch schaffen." kam die Antwort von dem braunhaarigen.
„Dann nimm dir wenigstens einen Apfel mit auf den Weg mein Junge!"
Ohne zu antworten schnappte sich Xie Lian leicht demotiviert einen noch Hinterbliebenen Apfel aus der Obstschale und machte sich kauend an der Schwester vorbei auf dem Weg zum letzten Gespräch mit seinem behandelnden Therapeuten. Sobald die Schwester hinter ihm verschwand, viel der Apfel nach zwei kläglichen Bissen jedoch in den nächsten Mülleimer.

Die Tür gab ein leises knarrendes Geräusch von sich als Xie Lian die Klinke betätigte. Dann schob er sich leise durch den Spalt in das Büro von Dr. Wu. Dieser bemerkte ihn erst nicht und saß mit dem Rücken zum Eingang dem Fenster gegenüber, blätternd vermutlich in Xie Lians Unterlagen der letzten 44 Tage.
„Ehem" auf ein kurzes Räuspern hin drehte sich der Artzt in seinem Stuhl und begegnete ihm mit einem freundlichen Gesicht.
„Guten Morgen Xianle, bitte setzte dich doch. Wie fühlst du dich heute?"
Xie Lian nahm ihm gegenüber hinter Dr. Wu's hölzernem Schreibtisch platz.
„Ich denke ich fühle mich soweit in Ordnung heute." entgegnete Xie Lian.
„Freust du dich also darauf wieder nach Hause zu kommen?"
„Ja ich denke schon."
„Und wie hast du vor dich dort weiter zu verhalten? Wie sehen deine Pläne für die nächste Zeit aus?"
„Nun, ich denke ich werde mich erstmal auf meinen Schulabschluss konzentrieren und vielleicht nach einem neuen Hobby suchen um mich besser abzulenken."
„Das klingt schon nach einem guten Ansatz Xianle. Ich bitte dich jedoch auch darum zu versuchen mehr soziale Kontakte aufzubauen so wie wir es besprochen haben. Bitte versuche auch weitergehend drei volle Mahlzeiten zu dir zunehmen und besonders wichtig, schaffe am besten sobald du zuhause bist alle scharfen Gegenstände aus deiner näheren Umgebung.
So kommst du erst gar nicht in Versuchung."
„Hmm, dass werde ich machen."
„Sehr schön Xianle. Ich weiß du hattest nicht sonderlich viel Vertrauen in dieses Programm, doch glaube ich, dass du trotzdem das ein oder andere gelernt hast. Ich bin mir sicher du wirst deinen Weg in dieser Welt bald finden."
„Ich danke ihnen. War es dass schon?"
„Ja Xianle, heute haben wir nicht mehr zu besprechen. Du darfst jetzt wieder auf dein Zimmer gehen und deine Sachen zurecht packen. Deine Mutter sollte dich gegen Mittag abholen kommen."
„Auf Wiedersehen" sagte Xie Lian und bewegte sich langsamen Schrittes wieder auf die knarrende weiße Tür zu.
„Ich wünsche dir alles gute Xianle!" entgegnete Dr. Wu, doch Xie Lian konnte nur noch ein kurzes gespieltes Lächeln entgegnen bevor die Tür auch schon hinter ihm zugefallen war.
Dann machte er sich ein letztes Mal auf in seine kleine Zelle.

Wieder zurück im Zimmer warf der braunhaarige sein Hab und Gut eher unbedacht in den nun offen stehenden Koffer.
Besonders viel hatte er sowieso nicht zusammen zu packen. Die einzigen ihm wirklich wichtige Gegenstände sind seine Bücher, von denen er während seines Aufenthaltes auch recht viele verschlungen hatte, da er ja mehr als genug Zeit besaß.
Nach längerem hin und her überlegen, entschied sich Xie Lian die Bücher einfach in seinen Rucksack zu packen, da der Koffer sonst vermutlich nie zugehen würde. Dieser Zustand war allerdings eher aus seinem Unwillen, die Kleidungsstücke zu falten, her verursacht.
Als alles vorbereitet war, zeigte sein ihm nun zurückgegebenes Smartphone 11:30 Uhr an. Seine Mutter würde also vermutlich jeden Augenblick auftauchen.
Mit leicht mulmigem Gefühl im Magen setzte er sich ein letztes Mal auf sein Bett und schaute durch die dahinter liegenden Gitterstäbe raus auf den Klinikgarten, wo sich auf einem Baum zwei Vögel laut zwitschernd zu unterhalten schienen. Nach einem kurzen Lied ihrerseits flatterten Sie beide, sich umkreisend, in das Blau des Mittag Himmels und verschwanden langsam aus Xie Lians Blickwinkel.
~ Bald bin ich auch wieder so frei wie ihr meine Freunde ~ dachte Xie Lian.
~Ich wünschte nur, auch ich hätte einen der mit mir fliegt.~
In diesem Moment öffnete sich ungewöhnlicher Weise fast lautlos die Tür zum Zimmer und seine Mutter betrat den kleinen Raum mit einem unsicheren Ausdruck auf dem Gesicht.

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⏰ Last updated: Apr 02 ⏰

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