Hagelkörner

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Es hatte zu regnen angefangen. Aber in der Küche war es warm und es duftete nach Pfannkuchen. Jackson und May saßen am Tisch und bestrichen das fluffige Lieblingsgericht von May mit einer dicken Schicht Schokoladencreme.

"Du musst mir versprechen, unsere Mutter da rauszuhalten", May rollte ihren Pfannkuchen zusammen.

"Warum willst du dir nicht helfen lassen?", Jackson stand auf und holte aus dem Küchenschrank zwei Gläser, in die er Leitungswasser füllte.

"Ich lass mir helfen. Aber nicht von ihr", May nahm eines der Gläser entgegen und trank einen großen Schluck.

Jackson setzte sich Kopf schüttelnd. Bevor er etwas sagen konnte, wurde die Wohnungstür geräuschvoll geöffnet und wieder geschlossen. Kurz darauf stand ihr Vater in der Küche. Er war von Kopf bis Fuß durchnässt.

"Ich fasse es nicht. Ihr beide sitzt hier gemütlich, während ich da draußen wie ein Verrückter nach May suche!", zornig wandte sich ihr Vater an May. "Wir haben ausgemacht, dass ich dich zur Schule bringe und wieder abhole! Warum warst du nicht da? Und warum bist du nicht an dein Handy gegangen? Wozu habe ich dir das verfluchte Ding gekauft, wenn du nicht zu erreichen bist?"

"Ich dachte, du hast Jackson gesagt, er soll mich abholen! Und mein Handy ist auf lautlos. Ich habe nichts falsch gemacht", May reckte herausfordernd ihr Kinn.

Jackson warf ihr einen alarmierten Blick zu.

"Was denn? Ich soll mich anschreien lassen, obwohl ich nichts verbrochen habe und wenn ich mich wehre, ist das nicht okay? Ernsthaft Jackson? Ein bisschen Rückgrat würde die nicht schaden", ruckartig stand May auf.

"Du gibst mir das nächste Mal Bescheid, wenn du deine Schwester abholst! Ich habe dir doch gesagt, sie hat Hausarrest", die wütende Stimme ihres Vaters ließ May zusammenzucken.

Jackson hob abwehrend die Hände nach oben.
"Mein Fehler", Jackson sah seinen Vater zerknirscht an. "Tut mir leid, Dad, dass du dir Sorgen gemacht hast."

May machte eine Geste, als wollte sie sich übergeben. Ihr Vater warf ihr einen strengen Blick zu.
"Ihr geht jetzt beide aus der Küche, damit ich eine heiße Dusche nehmen kann und danach reden wir."

"Was willst du denn reden? Ich habe keinen Gesprächsbedarf mit dir, solange du an deinen Vorurteilen festhälst!", May verschränkte ihre Arme vor der Brust.

"Ich habe keine Vorurteile. Ich weiß, wie gefährlich solche Menschen sein können", ihr Vater zog seinen nassen Pulli aus und hängte ihn über eine Stuhllehne. Der Regen war mittlerweile in Hagel übergegangen und kleine Eiskörner schlugen laut gegen das Fenster.

"Und woher weißt du das? Hast du jahrelange Forschung dazu betrieben? Hast du Fachliteratur gelesen? Hast du mit irgendeinem dieser Menschen überhaupt auch nur einmal gesprochen?", Mays wütende Stimme dröhnte durch die Küche.

"Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen! Und jetzt will ich duschen", ihr Vater zog seine Socken aus und holte ein Handtuch.

"Bitte, geh duschen! Aber weißt du was? Ich werde danach nicht mit dir reden. Und ich werde auch nicht Jura studieren. Mich interessiert Jura überhaupt nicht. Ich will Konditorin werden. Ich liebe es, zu backen. Ich will etwas mit meinen Händen erschaffen. Ich will andere Menschen mit meinem Essen glücklich machen. Und es ist mir total egal, was Granny, du oder sonst wer sagt. Ich werde nächstes Jahr nicht zur Uni gehen!", die letzten Worte hatte May geschrien.

Jackson sog hörbar die Luft ein.
Ihr Vater starrte sie perplex an.
"Du musst. Es ist zu spät, um für nächstes Jahr einen Ausbildungsplatz zu bekommen."

"Es gibt immer kurzfristig Plätze. Und wenn ich keinen bekomme, überbrücke ich das Jahr irgendwie. Aber nichts und niemand wird mich an die Universität bringen", Mays Herz raste. Sie konnte kaum fassen, was sie gerade eben gesagt hatte. Das Kribbeln in ihrem Bauch verriet ihr, dass sie das Richtige getan hatte. Sie würde das machen, was sie wollte. Und sich nicht von irgendjemand etwas anderes vorschreiben lassen. Immerhin war das ihr Leben und sie würde es nach ihren Vorstellungen leben.

"Du bist wie deine Mutter", die Stimme ihres Vaters klang merkwürdig. Sie konnte nicht sagen, ob der Satz als Vorwurf oder Anerkennung gemeint war.

"Okay, ich würde vorschlagen, Dad geht jetzt duschen und wir gehen ins Wohnzimmer ", Jackson war mit einem Schritt neben May und schob sie Richtung Tür.

Bevor sie aus dem Zimmer ging, drehte sich May noch einmal zu ihrem Vater um.
"Und noch was, Dad. Schizophrenie ist eine Krankheit. Ich verurteile kranke Menschen nicht. Ich mache ihnen das Leben nicht schwerer, als es ohnehin schon ist. Und schon gar nicht unterstelle ich bislang gesunden Kindern dieser Kranken, dass bei ihnen ebenfalls zwangsläufig die Krankheit ausbricht. Du sagst, du willst mich beschützen, aber ich glaube, du hast nur Angst. Angst vor etwas Unbekanntem. Vor etwas, das du nicht kontrollieren kannst. Würdest du dich informieren, würdest du merken, dass du mich gar nicht beschützen musst", mit diesen Worten ging May aus der Küche.

Jackson folgte ihr schweigend. Ihr Vater schloss die Tür hinter ihnen und kurz darauf hörten sie das Geräusch von fließendem Wasser.

"Vielleicht solltest du das mit Jura doch nochmal überdenken. Das war ein ziemlich gutes Schlussplädoyer", ihr Bruder grinste May an und ließ sich auf das Sofa fallen.

"Er wird seine Meinung trotzdem nicht ändern. Und jetzt hasst er mich bestimmt, weil ich mich gegen Jura entschieden habe", May setzte sich neben ihren Bruder.

"Quatsch! Dad wird dich immer lieben. Du bist seine Prinzessin und er ist quasi süchtig nach deinen Muffins und Törtchen. Er braucht nur Zeit, um sich an deine Entscheidung zu gewöhnen. Aber dann wird er dein bester Kunde sein. Und was Chris angeht. Sei dir mal nicht zu sicher, dass er seine Meinung nicht doch ändert. Er war ziemlich beeindruckt von dir", Jackson legte seinen Arm um May.

Sie kuschelte sich an ihn.
"Bin ich wirklich wie Mum?", fragte sie leise.

Jackson grinste.
"Allerdings. Wenn ihr beiden euch erstmal was in den Kopf gesetzt habt, zieht ihr es durch. Ohne Angst vor Verlusten."

May schaute zu ihm.
"Ich bin so nicht. Ich würde niemals meine Kinder verlassen."

Jacksons Blick wurde ernst.
"Sie hat uns nicht verlassen, May. Sie hat nur versucht, sich selbst zu retten. Du kannst ihr nicht vorwerfen, bei ihrem Potential nicht nach den Sternen zu greifen. Bei manchen Entscheidungen gibt kein falsch und richtig. Sondern nur falsch. Weil irgendjemand immer leidet. Warum aber sollte Mums Leiden weniger wiegen als unseres? Nur weil sie unsere Mutter ist, hat sie nicht aufgehört ein eigener Mensch zu sein."

May starrte ihren Bruder an.
"Jackson, ich glaube, so viel hast du noch nie am Stück geredet. Vielleicht werde ich irgendwann über das nachdenken, was du über Mum gesagt hast. Aber jetzt will ich mich nicht auch noch damit beschäftigen. Mein Leben hat gerade genug andere Baustellen."

May griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein.

"Vielleicht ist die Baustelle eine Brücke, die gerade über den Fluss deiner Probleme gebaut wird?", Jackson legte seine Füße auf den Tisch.

May drehte sich zu ihm.
"Wer bist du und was hast du mit meinem Bruder gemacht?"

Als Antwort lachte Jackson und May stimmte in sein Lachen mit ein.

Believe in you (ONC 2024)Where stories live. Discover now