Tag 8 - Alles auf eine Karte (1)

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Jacques

Vollkommen erschöpft und zerschlagen lag Jacques in seiner stickigen Zelle mit den anderen, während durch das winzige Fenster nur unzureichend kühle Nachtluft hinein sickerte. Aber der ersehnte Schlaf stellte sich nicht ein und ließ ihn mit den grausigen Bildern des Tages allein.

Im Laufe des Nachmittags hatten sie das Massengrab, in dem sich Dutzende stinkender Leichen unter eine dicken Kalkschicht sammelten, zugeschaufelt. Immer wieder schienen sich Gliedmaßen zu bewegen, als sträubten sich die ermordeten Migranten, endgültig zu sterben. Das waren nur Gase, die in den aufquellenden Körpern aufgrund der Hitze entstanden – zumindest redete er sich das ein. Die Erinnerung an den Mitgefangenen, den sie noch lebend in die Grube werfen sollten, ließen Zweifel in ihm aufsteigen, ob die anderen in dem Graben wirklich schon tot waren. Aber eine Wahl hatte er nicht gehabt, ansonsten hätte er sich selbst zu den Toten gesellen müssen.

Die neue Baracke würde im nächsten Morgen genau an dieser Stelle errichtet werden. War das Zufall oder wollte jemand die Ermordungen vertuschen? Niemand würde in der ZEU nach ihnen suchen. Außer ihm war hier niemand offiziell registriert worden und daher in keinem System erfasst. Unter diesem Gesichtspunkt war das Fehlen nahezu jeglicher Technik bei den Wachen und im Lager nachvollziehbar. So gab es, bis auf die sadistischen Uniformierten und seine Mitgefangenen, kaum Zeugen – und vor allem keine technischen Aufzeichnungen. Äußerst ungewöhnlich für die ZEU.

Ein spitzer Schrei neben seinem Ohr ließ ihn hochschrecken. Sein Leidensgenosse, der dort lag, schien von Albträumen geplagt zu werden. Kein Wunder. Scheinbar war er selbst ebenfalls doch noch eingeschlafen. Hinter dem winzigen vergitterten Fenster erschien der Himmel nicht mehr nachtschwarz, sondern in einem tiefen Blau, das unter anderen Umständen erhaben gewirkt hätte. Es ging auf Sonnenaufgang zu. Bald würde eine der Wachen die Tür aufreißen und sie anbrüllen. Ob diese Menschen in den Uniformen tatsächlich so etwas wie Befriedigung bei ihrer Arbeit spürten? Oder wurden sie dafür bezahlt grausam zu sein? Weiterhin kapierte er nicht, warum man sie hier wie Zwangsarbeiter behandelte und leichtfertig tötete.

Aber heute war ihr Tag. Sie waren zum Arbeitsdienst eingeteilt, um beim Aufbau der neuen Baracken zu helfen. Noch am Abend hatten sie bei ihren Mitgefangenen den Plan vom Aufstand und den geplanten Ausbruch verbreitet. Erstaunlich viele waren bereit, sich zu beteiligen. Vermutlich, da sie genauso wie er um ihre Familien fürchteten und ebenfalls nicht in einem Massengrab enden wollten. In ein paar Stunden würden sie sehen, ob das nur leere Worte waren oder mehr dahintersteckte.

Alles oder nichts.

»Not so fast! Be careful!«, rief eine der Wachen von unten.

Jacques stand zusammen mit Ruhan und zwei anderen auf der Ladefläche eines lang gezogenen blauen Lkws. Dieser hatte eine komplette zerlegte Baracke geladen. Böden, Wände, Dächer, Türen – alles aus massivem Kunststoff. Im Grunde bestanden die Häuser aus einem simplen Stecksystem, wie bei einem Spielzeughaus. Zwei Wachen auf beiden Seiten gaben Anweisungen, während ein Dutzend Mitgefangener darauf wartete, die Teile entgegenzunehmen. Gerade hatten sie eine der schweren etwa fünf Meter hohen Bodenplatten vom Laster geschoben. Sie stand senkrecht vor ihnen auf der Kante. Mit Seilen sollten sie diese langsam herunterlassen, damit sie nicht zu schnell kippte. Danach würden die wartenden Gefangenen den massiven Kunststoff an den Seiten anheben und zu seinem Ziel schleppen.

Er warf Ruhan und den anderen beiden einen verstohlenen Blick zu. Sie nickten kaum merklich. Das war das vereinbarte Zeichen. Eine bessere Gelegenheit bekämen sie nicht. Sein Herz raste. Jetzt oder nie. Wie auf ein Kommando ließen sie die Seile los, als die Platte bereits schräg nach vorne kippte. Die Menschen an den Seiten schrien auf und flohen in Panik. Mit einem dumpfen Knall schlug das flache Bauteil vor deren Füße. Feinster Sand wirbelte schlagartig auf, nahm allen die Sicht und brachte sie zum Husten.

𝗙𝗔𝗞𝗘 𝗣𝗔𝗥𝗔𝗗𝗢𝗫 - Fake News war gestern ✔️Where stories live. Discover now