Five

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Kentin parkte den Wagen auf einem dunklen Parkplatz in der Nähe der Bahnschienen. Er hatte Glück, dass die Kaserne, in der er stationiert war, nicht weit weg war. Hätte er von zu Hause anreisen müssen, wäre das sicher eine Tagesreise geworden.
Er nahm seinen Armeesack aus dem Kofferraum, schloss den Wagen sorgfältig ab und machte sich auf den Weg auf den Bahnhofsplatz.
Dort würden sie abgeholt werden, hieß es.
Schon von Weitem konnte er eine Gruppe bestehend aus vier Mann ausmachen. Sie lachten, also scheinbar verstand man sich. Er musste unwillkürlich lächeln.
Einer der Männer, ein hübscher Schwarzhaariger wandte sich plötzlich zu ihm um und starrte ihn so intensiv an, dass Kentin unwillkürlich Gänsehaut bekam.
Himmel, diese Augen...
Selbstbewusst schritt er auf die Gruppe zu.
»Ist das hier der Chat-Treff?«, lächelte er und erntete Kopfnicken und erstaunte Blicke.
»Und wer bist du?« Der Schwarzhaarige war etwas kleiner als Kentin und blickte mit sonderbar amethystfarbenen Augen zu ihm hoch.
»Kentin«, antwortete er, bis ihm einfiel, was der andere meinte. »Äh, Cookie Dough.«
Die Augen des Schwarzhaarigen wurden noch größer, als er kaum hörbar hauchte: »Dich wollte ich kennenlernen. Darf... darf ich dich umarmen?«
Kentin nickte überrascht und der andere fiel ihm um den Hals. Sein Duft kitzelte Kentin in der Nase und eine leichte Gänsehaut krabbelte über seinen Rücken. Er schob es auf den kühlen Nachtwind.
»Dann ist du Äpfelchen? Und du Kirshi? Äh... und ihr zwei?«
Leo und Kazuya nickten und die Mädchen beantworteten die Frage.
»Dann fehlen nur noch Zimtstern, MacMuffin, Avocado und der Mod?«
Wieder ein Nicken und interessiertes Umsehen. In wenigen Minuten kam noch ein Zug, vielleicht enthielt noch welche von den Fehlenden.
»Möchte einer von euch einen Keks?« Kentin grinste und holte eine Packung Prinzenrolle aus der Tasche. Die anderen kicherten und griffen zu.
»Ich trage den Nick nicht umsonst.«
Wieder ein Lachen und Kentin spürte überdeutlich die Blicke des Schwarzhaarigen auf sich. Als ein weiteres aufregendes Kribbeln über seine Haut wanderte, konnte er es nicht mehr abstreiten. Es lag an dem Typen. Er faszinierte ihn und er... ja, er machte ihn an.
»Langsam könnte hier mal einer kommen, mir ist kalt.«, maulte dieser und Kentin bemerkte zu seiner Überraschung, dass der andere, Kazuya, ohne zu zögern seine Jacke auszog und sie ihm umlegte.
Waren die etwa zusammen? Warum glotzte der eine ihn dann so an?
Resignation breitete sich in ihm aus und er schob sich einen Keks fast zur Gänze in den Mund. Manche Dinge legte man auch mit 22 nicht ab, die einem jahrelang über Kummer hinweggeholfen hatten.
Was sollte es auch. Es konnte ihm egal sein. Wahrscheinlich würde er die alle hier eh nicht wiedersehen nach diesem Treffen. Und warum machte er sich überhaupt einen Kopf über einen Typen, von dem er nur den albernen Nickname wusste?
Er war nicht schwul. Basta. Darauf hatte er keinen Bock! Er wollte heute Abend gut essen und die Leute ein bisschen kennenlernen, wie sie im wahren Leben waren. Liebe oder gar Sex standen gar nicht auf dem Plan! Trotzdem entging ihm nicht, dass der Junge ihn weiter anstarrte, als wäre er ein besonders exotisches Tier, dass er noch nie gesehen hatte.
Gott, warum hatte der Bengel auch solche Augen?!
»Es ist wirklich kalt. Hat einer von euch den Link mit der Mail?« Kim hatte sich eine Zigarette angesteckt und der Typ mit den roten Haaren, Kazuya, tippte auf dem Telefon rum.
»Hier steht: ‚Treffpunkt am Bahnhof. Abholung erfolgt um 21 Uhr.'« Er sah auf die Uhr. »Noch eine Viertelstunde.«
Leo zitterte und auch die kleine Viola schien nicht wetterfest gekleidet zu sein. Kentin gab beiden noch einen Keks, da Schokolade wissenschaftlich ja gegen Kälte hilft.
»Danke...«, schnurrte der Junge und Kentin bekam Gänsehaut. Verdammt!

Kurze Zeit später kam tatsächlich ein Minibus und hielt vor dem Bahnhäuschen. Ein Fahrer stieg aus und nahm die Taschen.
»Bitte, Herrschaften, steigen Sie ein.«
»Aber... wir sind noch nicht komplett.«, fiepte Viola. Der Fahrer lächelte sie an. Ein Lächeln, das Kentin unangenehm fand. Irgendwie verschlagen. Er hatte ein komisches Gefühl, als er ihm seine Tasche hinhielt.
»Zwei der Teilnehmer sind bereits im Haus und der Dritte befindet sich im Bus.«
Die Köpfe gingen herum, als ein junger Mann mit goldblonden Haaren ausstieg. Er war vielleicht 23 und trug ein Hemd und einen Pullunder, was ihn sehr brav aussehen ließ.
»Hallo, ich bin Nathaniel. Ihr kennt mich als Avocado.« Er lächelte und sah aus wie ein Junge, nicht wie ein Mann. Er wurde von allen freundlich begrüßt und auch hier bemerkte Kentin, dass der junge Mann mit den schwarzen Haaren ihn genau abcheckte, aber ihn dann wohl als unpassend einstufte.
Aus einem merkwürdigen Grund gefiel ihm das.
Alle stiegen ein und entspannten sich, als sie in die Wärme des Wagens eintauchten.
»Wir sind in wenigen Minuten am Haus und um halb Zehn erwartet Sie ein Abendessen.«, sagte der Fahrer mit Blick auf die Straße. »Davor haben Sie die Möglichkeit, Ihre Zimmer zu beziehen und sich frisch zu machen.«
Ein Raunen und Staunen ging durch die Gruppe, als sie einen Hügel erklommen und das ehemalige Gasthaus nun wie ein kleines Schloss vor ihnen auftauchte.
»Wow...«, rutschte es Kentin raus und die anderen lachten etwas.
Der Wagen hielt und alle stiegen aus. Jeder mit seiner Tasche oder seinem Koffer bewaffnet, trabten sie die alte Treppe hoch und der Geruch von Rosen hüllte sie ein. Etliche spätblühende Büsche säumten den Aufgang und die Terrasse vor dem Portal.
»Das ist wie ein Prinzessinnenschloss. Ein Unheimliches.«, murmelte die kleine Viola unsicher und drängte sich unbewusst an die erste Person, die ihr nahe war. Und das war Kentin. Sie rückte erschrocken ab, doch er lächelte nur und legte seinen Arm um sie.
»Du hast Recht, das ist echt gruselig. Aber mir gefällt es.«
Gemeinsam betraten sie die Eingangshalle hinter dem Fahrer, der ihnen den Weg zu den Zimmern wies. Jeder hatte ein eigenes Zimmer im ersten Stock und so trabten sie nacheinander die Treppe hoch. Kentin öffnete die erste Tür und stand in einem eleganten Schlafzimmer mit altertümlichen Bett. Er hörte begeistertes Quietschen und Jubeln, das nur von den Mädchen kommen konnte, aber auch, das auf der gegenüberliegenden Seite zwei Türen geöffnet wurden und Stimmen erklangen.
Scheinbar waren die anderen auf die letzten verbliebenen Teilnehmer gestoßen. Kentin legte seinen Rucksack ab und ging wieder auf den Flur.
Als erstes fiel ihm ein Mädchen mit orangeroten Haaren auf, die – irgendwie hatte er sich daran gewöhnt – von dem Schwarzhaarigen geherzt wurde, von dem er immer noch nicht den Vornamen wusste.
»Ja, ich bin dann logischerweise Zimtstern. Hallo...«, lachte das Mädchen und begrüßte auch Kentin mit einem freundlichen Handschlag. »Ich bin Iris. Schrecklicher Name, oder? Ich bin meinen Eltern immer noch böse deswegen.«
Kentin lachte. »Ich bin Cookie Dough, aber meine Eltern und alle anderen nennen mich Kentin. Oder Ken, wie du magst.«
Eine zweite Tür öffnete sich und der mit Abstand älteste der Teilnehmer trabte auf den Flur. Er rieb seine Brille an seinem blauen Pullunder sauber und lächelte in die Runde.
»MacMuffin?«
Der Mann nickte und streckte die Hand aus.
»Ja. Im richtigen Leben Jonathan Faraize. Schön, euch alle mal kennenzulernen.«
Die Leute stellten einander vor und Kentin erfuhr erst jetzt, dass der Junge mit den schwarzen Haaren Lelou hieß, von allen aber nur Leo gerufen wurde und sein rothaariger Freund auf den Namen Kazuya hörte.
Eine Glocke ertönte und ein altmodisch gekleidetes Hausmädchen rief die „Herrschaften" zum Abendessen. Freudig erregt und lachend stiefelten alle in den hell erleuchteten Raum und nahmen an der festlich gedeckten Tafel Platz.
»Sagt mal, einer fehlt aber immer noch...« Kentin sah sich an der Tafel um und fing dann an, mit dem Finger auf die einzelnen Personen zu zeigen.
»Wir haben hier Äpfelchen, Kirshi, Cupcake, CherryPie, Zimtstern, Avocado, MacMuffin und mich, Cookie Dough. Nur der Mod fehlt... habt ihr was gehört, dass ihm was dazwischen gekommen ist?«
Alle schüttelten den Kopf und sahen sich verwundert an.
»Naja, vielleicht liegt es am Verkehr? Die Straßen sind nicht überall so gut...«, warf Nathaniel ein.
»Ja, ich glaube auch, dass er noch kommen wird. Fangen wir doch einfach schon mal an. Wäre ja blöde, alles kaltwerden und verderben zu lassen.« Kim blickte in die Runde und die anderen nickten schließlich.
Das Hausmädchen begann mit Aufdecken und alle ließen sich ein ausgezeichnetes Abendessen und ein köstliches Dessert schmecken, währenddessen die Unterhaltung nur dann ins Stocken geriet, wenn gerade alle den Mund voll hatten.
»Also Kentin, du bist Soldat? Hab ich das richtig verstanden?« Faraize, der Älteste in der Gruppe, blickte ihn über seine Brille hinweg an und der Angesprochene nickte.
»Ja, auf 5 Jahre verpflichtet. 2 hab ich schon rum.«
»Hattest du schon mal einen Auslandseinsatz?«, fragte die kleine Viola und er nickte wieder.
»Letzten Winter war ich für 8 Wochen in Afghanistan. Aber ich war nur in der Reserveeinheit, hab also keinen Kampfeinsatz erlebt. Zum Glück, möchte ich sagen.« Er grinste und spießte ein Schnitzel auf.
»Und was macht ihr so? Irgendwie geht das im Chat immer unter...«
»Ich bin Lehrer an einer Oberschule. Ich unterrichte Deutsch und Geschichte.«, antwortete Jonathan Faraize und wischte schon wieder an seiner Brille herum.
»Und gerade Papa von zwei Schreihälsen geworden, hm?«, grinste Leo und bekam ein müde wirkendes Lächeln zurück.
»Oh ja, ich liebe sie. Aber jetzt, wo die Zähne kommen, das ist die Hölle.«
»Kazuya und ich studieren. Er wird irgendwann in Mode machen und ich in Sozialwissenschaften.«
Die Blicke wandten sich auf den schwarzhaarigen Leo und alle wirkten etwas überrascht. Dass sie Studenten waren, hatten sie mal erwähnt, aber nicht solche Gebiete.
Kentin konnte sich den kribbelig wirkenden Leo nicht in einem ernsten Fach wie Sozialwissenschaften vorstellen. Andererseits war er ganz offensichtlich schwul und hatte auch nie ein Geheimnis daraus gemacht. Kein Wunder, dass ihn Sozialstrukturen und Menschenrechte interessierten.
»Ich bin Grafikdesignerin.«, piepste Viola zwischen zwei Bissen und alle nickten. Oh ja, Viola konnte malen, sie hatte öfter Bilder im Chat hochgeladen.
»Und du, Nathaniel?«
Der blonde junge Mann wischte sich den Mund ab und lächelte.
»Ich bin Jurastudent. Ziemlich langweilig, wenn ich eure Sachen hier so höre...«
»Ach, gar nicht. Das ist ein Job mit Zukunft. Zoff gibt es immer.«
Nathaniel lächelte und nickte. »Da habt ihr allerdings Recht. Mein Vater ist auch Anwalt, da habe ich eine Menge mitbekommen.«
Die Gespräche verebbten nach und nach, während die Schüsseln und Platten auf dem Tisch sich zunehmend leerten.
»Boah... ich kann nicht mehr...« Der zierliche Leo lehnte sich auf seinem Stuhl nach hinten und hielt sich den nicht vorhandenen Bauch. »Guck mal, Kazu, ich platze gleich.«
Der Angesprochene grinste und schob sich noch ein Stück Fleisch in den Mund.
»Nimm noch was von der Roten Grütze, die ist echt gut. Und sonst ist es verschwendet.«
»Es passt nichts mehr rein...«, keuchte der andere und seine Augen suchten wieder den Kontakt zu Kentins.
Dieser versuchte, sich auf seinen Teller zu konzentrieren, doch das Schlucken fiel ihm schwer. Dieser Bengel machte ihn wahnsinnig. Wie konnte man nur so extrem auf einen wildfremden Menschen reagieren?
Ein Kichern ließ ihn aufblicken und sein Blick traf direkt in die amethystfarbenen Augen des jungen Mannes. Wer war eigentlich auf die dumme Idee gekommen, die beiden einander gegenüberzusetzen? Der Schwarzhaarige grinste und realisierte natürlich, das Kentins Wangen zu glühen begannen.
VERDAMMT!
Kentin starrte stur auf seinen Teller. Niemand anderes schien zu bemerken, was der Schwarzhaarige da für ein Spielchen trieb.
Es ging auf 23 Uhr zu, als das Essen beendet wurde und das Hausmädchen begann, das Geschirr abzuräumen.
»Sollen wir noch was trinken oder seid ihr alle müde?« Kim blickte in die Runde. Sie schien aufgekratzt und wach zu sein, aber alle anderen waren erkennbar angeschlagen von der Anreise und dem reichlichen Essen.
»Also ich nehm noch 'ne Dusche und dann hau ich mich hin. Ich bin es aus der Kaserne nicht gewöhnt, lange wach zu bleiben.«, murmelte Kentin und rubbelte sich durch die Haare.
»Ich muss es ausnutzen, mal bis 9 Uhr schlafen zu können, ohne von Babygeschrei geweckt zu werden. Folglich werde ich auch ins Bett gehen.« Jonathan Faraize lächelte entschuldigend in die Runde. Und so entschieden sich alle, sich in ihre Zimmer zurückzuziehen und das gemeinsame Trinken und bessere Kennenlernen auf den nächsten Vormittag zu verlegen.
»Vielleicht ist der Mod bis dahin aufgetaucht.«

Spieluhr [AS]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt