Wie kann man so jemanden lieben?

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Sie kauerte sich in eine Ecke. Ihre Haare verdeckten das Gesicht. Sie sagten ihr immer, dass sie in dieser Welt nie überleben konnte. Aber "überleben" war ihr zweiter Name. Sie hatte sehr viel mehr durch gemacht, als sich auch nur irgendwer vorstellen konnte. Mehr, als sich irgendwie vorstellen durfte, wenn man bei Verstand bleiben wollte.

Alles war dunkel. Also konnte sie nicht gefunden werden. Sie wollte allein sein, allein in einer Ecke in einem verlassenem Haus, ausgegrenzt von ihnen und sich selbst und ungesehen. Verborgen im Schatten.

Jeder würde sie ohne zu zögern als gefühlskalt, abweisend und aggressiv beschreiben. Das war lächerlich. Innerlich war sie zerbrechlich, dass musste sie leider viel zu früh feststellen. Sie hätte gerne länger in ihrer kindlichen Unschuld gelebt, den Kopf immer in den Wolken. Doch das Leben hatte andere Pläne für sie gehabt. Das hatte es bis jetzt immer.

Das klang hart, aber sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, so gut es eben ging. Das dachte sie zumindest. Doch dann kam wieder alles anders und sie floh in ein verlassenes Haus und kauerte sich in eine Ecke.

Wenn man sie selbst fragen würde, wie sie sich wahrnimmt, dann hätte sie nur ein Wort gesagt. Allein. Sie fühlte sich zerbrochen. Ihr gläsernes Herz war zersplittert und alle machten sich ein Spaß daraus, auf den Scherben zu tanzen. Und dennoch wunderte sich dann jeder, wieso man Schnittwunden davontrug.

Manchmal wünschte sie sich, dass es irgendwen geben würde, der sie akzeptierte. Der sie lieb hatte, aufbaute und bei dem sie ihren Schmerz vergessen konnte. Sie wollte es einmal erleben. Nie hatte ihr jemand gesagt, wie das war. Und erfahren hatte sie es auch nicht. Natürlich, niemand hielt es für nötig, diesem seelischen Wrack ein Lächeln zu schenken.

Die Meisten behaupteten, dass sie auf alle herabsah. Das sie nicht wusste, was Schmerz bedeutete. Doch war es nicht genau andersherum? Sie verurteilten sie, ohne zu wissen, dass sie sich in ein verlassenes Haus zurückzog und in eine Ecke kauerte, um sich vor allem zu verstecken. Reduzierte man sie auf ihre Gefühle, so wird man feststellen, dass es nur Leid war, dass sie ertragen hatte. Doch sie akzeptierte es. Ihre Mutter hatte ihr nie etwas von positiven Gefühlen erzählt. Ihr Vater war das schlechteste Vorbild, dass man sich vorstellen konnte. Wie hätte sie also etwas derartiges empfinden können, das fragten sich alle.

Aber irgendwann bricht jeder zusammen und so saß sie hier nun. Ihre Mauer um ihr zersplittertes Herz war aufgebrochen, das Eisenschloss geknackt worden. Er hatte auf ihr Herz blicken dürfen. Ein Junge, der anders schien. Er hatte sie in ruhe gelassen, größten teils ignoriert. Dafür war sie dankbar. Also hatte sie ihm ihr Herz gezeigt, ihm ihre Seele offenbart. Deswegen war sie hier. Denn er hatte es verurteilt, wie alle anderen. Er hatte sie verstoßen.

Und somit hatte er ihr Herz genommen und die Scherben in alle Windrichtungen verstreut. Diese Erkenntnis schlich sich in ihr Bewusstsein und einen Moment lang war sie erstaunt. Er hatte ihr glatt ihr kleines, gebrochenes Herz gestohlen.

Sie stand wackelig auf und stützte sich an der Wand ab. Doch ihre Kraft reichte nicht, sie war zu schwach. Ihre Beine gaben nach und sie lag auf dem dreckigen Boden in der Ecke des verlassenen Hauses. Niemand würde sie vermissen, suchen oder gar finden, sie war allein. Sie hatte es so gewollt. Weil sie keinen mehr ertragen konnte. Ihr Herz, es war weg und ihr Verstand hatte aufgegeben.

Und ich fragte mich: Wie sollte sie so von jemandem geliebt werden? Wie konnte sie so jemanden lieben?

Und als ich ihr wahres Gesicht, ihr Leid sah, drehte ich mich weg und tat das, was alle machten, als sie starb: sie vergessen.

Wie kann man so jemanden lieben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt