Kapitel 3 - Notlügen

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Die Sekretärin mit dem gruseligen Dauerlächeln reichte uns alle Unterlagen, die wir für den Start an der neuen Schule bräuchten. Einen Stundenplan, einen Wahlzettel für außerschulische Aktivitäten, den Speiseplan der schuleigenen Mensa, einen Schulausweis und eine Grundrisskarte. Freundlich lächelnd kritzelte sie unentwegt auf Nathalies Unterlagen herum. Sie malte Kreise um wichtige Orte oder Worte, unterstrich einzelne Dinge und zeichnete Pfeile kreuz und quer über die Seiten. Während ich so tat, als würde ich ihren Ausführungen lauschen, fragte ich mich, wie man gleichzeitig sprechen und lächeln konnte. Bekam man davon keinen Muskelkater? Ich starrte durch die strahlend weißen Zähne hindurch auf die gemusterte Tapete hinter ihr.

Leider war mein Plan mit der Krankmeldung nicht aufgegangen. Überraschung. Und wenn man meiner Mutter Glauben schenken konnte, musste ich mich überaus glücklich schätzen, sofern die Schule davon absah, mich wegen Vandalismus zu verklagen. Während ihrem zehnminütigen Monolog hatte Nathalie wieder angefangen, Candy Crush zu spielen. Meine Schwester hatte nicht einmal von dem Bildschirm aufgesehen, als meine Mutter sie zum Abschied an sich gedrückt hatte. Als sie sich danach mir zugewandt hatte, war ich schnellstmöglich ins Sekretariat geflüchtet. Bei der Erinnerung zerknitterten die Papiere in meiner Hand.

Ein Ellenbogen in meiner Seite ließ mich zusammenzucken und katapultierte mich jäh ins Hier und Jetzt. Ich blinzelte, um meine Sicht wieder zu schärfen. «Ähh, was?» Nathalie neben mir zischte genervt.

Die Sekretärin lächelte geduldig. «Was ist euer erstes Fach?»

«Geschichte», erklärte Nathalie und kam mir so zuvor, als erstes hier verschwinden zu können. Mieser Streber.
Die Frau zeichnete meiner Schwester den Weg mehrmals auf ihrem Plan ein. In meinen Augen völlig unnötig, da die einzig andere Möglichkeit darin bestand, in einer Sackgasse zu landen. Doch vielleicht hatte diese Frau selbst in so kurzer Zeit bemerkt, wie begrenzt Nathalies Aufnahmefähigkeit war. Als wäre sie zwischenzeitlich von Aliens entführt und durch einen Klon ausgetauscht worden, bedankte sich meine Schwester höflich und wünschte der Sekretärin einen schönen Tag. Der Klang, den die Tür machte, als sie hinter dem Teufelsbraten im Schloss einrastete, kam mir seltsam laut vor.

Nun richteten sich die gräulichen Augen der Sekretärin wie zwei Gewehrläufe auf mich. «Und du?» Sie drückte ihre grüne Lesebrille nach oben. Ihr Blick war fürchterlich mitfühlend und bemitleidend. Ich starrte auf meine Unterlagen, ohne etwas lesen zu können. Die namenlose Frau leistete Beistand, in dem sie einen kurzen Blick auf einen der unteren Zettel warf. «Du hast Sportunterricht», half sie mir mit mütterlicher Stimme auf die Sprünge. Bitte, Boden tu dich auf.
Ich nickte abgehackt. Dieser Montag konnte unmöglich schlimmer werden. «Hast du denn Sportsachen dabei?», fragte sie mit einer Gutmütigkeit, die beinahe physischen Schmerz auslöste. Ein Stein fiel mir vom Herzen, als ich ehrlich verneinte. Doch kurz darauf drückte dieser Stein mir beinahe die Luft ab. «Dann kannst du dir aus dem Fundbüro ein paar Sachen ausleihen», erklärte sie. «Sie werden dir vielleicht nicht perfekt passen, aber für den ersten Tag ist das ja nicht so schlimm, oder?», fragte sie lächelnd. Ich war zu keiner Antwort fähig. Genau wie meiner Schwester zuvor, beschrieb auch sie mir in aller Ausführlichkeit den Weg durch das Labyrinth aus Schulfluren, obwohl ich nur noch mit halben Ohr zuhörte. Sportunterricht. Geliehene Kleidung aus dem Fundus. Das musste ein Witz sein. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, dem Unterricht einfach fern zu bleiben?

«Denk bitte an den Unterschriftenzettel!», rief die Sekretärin mir hinterher, da stand ich bereits halb im angrenzenden Flur. Ich erstarrte und blickte auf das besagte Schriftstück. Unterschriften der einzelnen Lehrkräfte sind am Ende des Tages wieder am Sekretariat abzugeben, stand dort in krakeliger Arztschrift geschrieben. Ich stöhnte lautlos und ließ die Türe lauter als beabsichtigt hinter mir zufallen. Meine Stimmung war an einem neuen Tiefpunkt angekommen.

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