#5 Die neue Amy

114 20 5
                                    

Die nächsten Tage verbrachte ich damit, wie eine Geistesgestörte am Fenster alle vorbeifahrenden Autos zu beobachten. Mittlerweile war ich fünf Tage in meiner Heimatstadt und hatte noch kein einziges Mal Logan gesehen, geschweige denn eine geeignete Pflegekraft für meinen Vater gefunden, der in einem roten Weihnachtspullover durch das Haus streifte. Seit dem frühen Morgen hatte er sich in sein früheres Arbeitszimmer verschanzt und experimentierte mit der blauen Tinte wie ein Kugelfisch.

Mein Tag verlief demnach nicht gerade spektakulär. Das Highlight war der aus Brasilien stammende Postbote, der mir mit dem witzigsten Akzent der Welt ein Päckchen zum Unterschreiben brachte. Ich ließ es aufgeregt auf den Küchentisch krachen. Schon als kleines Kind liebte ich es Geschenke aufzureißen. Das beste Beispiel war Weihnachten. Ich schlich mich jedes Mal vor Heiligabend nach unten und begutachtete mitten in der Nacht meine Geschenke. Am nächsten Morgen taten meine Eltern so, als wüssten sie nichts von meinem nächtlichen Ausflug, dabei hatten sie nur Attrappen für mich aufgestellt, um mich mit der wirklichen Überraschung begeistern zu können. Ich dachte gerne an vergangene Zeiten zurück, keine Frage, obwohl ich wusste, dass sie mich jedes Mal aufs Neue traurig machten.

Jeder Mensch hatte seine eigene Vergangenheit, seine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse, doch jeder interpretierte sie anders und verband glückliche oder schreckliche Zeiten damit. Für einen Menschen konnte eine Hochzeit das größte Glück auf Erden sein, für einen Anderen der blödeste Fehler aller Zeiten, den er ein ganzes Leben lang bereute. Doch ich würde keinen einzigen Tag meiner Vergangenheit missen, sonst stände ich nicht hier und wäre das, was ich heute war.

Gedankenverloren schnitt ich das braune Klebeband um das Packet herum auf und öffnete die Schachtel. Darin war nicht viel. Maßig braunes Papier, welches einen nicht ganz identifizierbaren, glasigen Gegenstand schützen sollte und ein Brief mit einer mir unbekannten Handschrift. Für Amy. Diese Aufschrift verzierte den weißen Umschlag. Die elegant geschwungenen Linien verlieh den Brief eine gewisse Wichtigkeit, sodass ich das Material wie ein wild gewordenes Frettchen mit Datteln im Arsch aufriss, nur um eine Sekunde später eine kleine Karte mit irgendwelchen Zahlen in der Hand zu halten. Ich hatte keine Ahnung, was das sollte oder welcher Idiot sich meinte, einen Spaß mit mir erlauben zu müssen, aber das war ganz und gar nicht witzig. Jeder, der mich kannte wusste, dass ich kein Mathegenie war. Wirklich jeder.
Das Packet nicht weiter beachtend, schob ich den braunen Gegenstand an den Rand des Tisches und begann mit der Zubereitung des Mittagessens. Hin und wieder ließ ich meinen Blick aus dem Fenster schweifen. Es war bewölkt, sodass man meinen könnte, der Himmel würde perfekt meine Stimmung widerspiegeln. Die Blätter des großen Baumes in unserem Garten waren schon längst davongeflogen, weshalb man lediglich das kahle braun der Äste sah. Alles sah so trostlos aus. So trostlos und leer. Früher wäre ich sicherlich zu diesem Zeitpunkt in Tränen ausgebrochen, aber in genau dieser Sekunde beschloss ich etwas. Ich wollte mich ändern. Ich wollte selbstbewusster werden und mich vor allem nicht mehr von so Dilettanten wie dem Idioten im Krankenhaus unterkriegen lassen. Ich war nun reif genug, um mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich wollte nur ein einziges Mal das Leben wieder spüren. Ich wollte glücklich sein und dazu gehörte nunmal auch sich unangenehmen Situationen zu stellen. Ich musste, nein, ich wollte mit Logan reden oder ihn zumindest sehen. Mir war durchaus bewusst, dass es nie wieder so sein würde, wie früher, allerdings hoffte ich, wieder den Freund zu bekommen, den ich damals mit unserem Beziehungsversuch verloren hatte und waren wir doch einmal ehrlich. Ich hatte nicht wirklich viele Freunde. Die meisten Menschen, die ich näher kennengelernt hatte, wendeten sich schon bald ab und das aus zwei Gründen. Entweder war ich ihnen zu langweilig oder zu verschlossen, irgendjemand hatte auf jeden Fall immer etwas an mir auszusetzen. Aber genug von dieser sentimentalen Kacke, ab jetzt würde eine neue Ära beginnen. Amy, die Draufgängerin oder naja vielleicht auch nur die Amy, die nicht mehr schüchtern war.

Ein Moment der alles änderteWhere stories live. Discover now