Der Anfang vom Ende

7 0 0
                                    

Wenn ich zurückdachte, an jene so vollkommen erscheinende Zeit in der Vergangenheit, die Augen schloss und alle Augenblicke Revue passieren ließ, tauchten unendlich viele Wenn und Abers in meinen Gedanken auf und verleiteten der Hülle aus Eis um meinem Herzen eine ganz neue Bedeutung. Dann fühlte sich jeder wunderschöne, längst vergangene Moment des Glücks wie ein bohrender Splitter an, welcher sich bei jeder Bewegung immer tiefer in das blutige Gewebe grub und tiefe Narben hinterließ. Jeder Atemzug schmerzte und schien in meinen Lungen zu brennen und nie gelöscht werden zu können.

Ich musste zugeben, meistens hatte ich es unter Kontrolle. Meistens konnte ich eben jene Erinnerungen in den Tiefen einer alten, modrigen Kiste tief in meinem Inneren einsperren und weit, weit von mir schieben. Doch meistens war nun eben mal nicht jetzt.

Wenn ich mich an einem Ort voller Stille befand und die einzigen Laute von meinen Gedanken stammten, sie alles ausfüllten und für nichts anderes mehr Platz ließen, begann die Kiste sich zu bewegen, als befände sich etwas Lebendiges in ihr. Sie fing an zu ächzen, zu rumoren und ungeduldig ihr Holz in ohrenbetäubender Lautstärke knarzen zu lassen, unnachgiebig und solange, bis sie meiner gesamten Aufmerksamkeit gewiss war. Sie schob sich immer und immer wieder in den Vordergrund und verbannte alles andere aus meinen Gedanken, bis ich nur noch an Dunkles und Düsteres, an Vergangenes und scheinbar längst Vernarbtes denken konnte.

Meistens konnte ich gar nicht anders, als nachzugeben, mich ihrer anzunehmen, den verloren geglaubten Schlüssel in das verrostete Schloss zu stecken und den schweren Deckel zu öffnen.

Wie gesagt, meistens passierte solches an ruhigen Orten. Und ich konnte nun wirklich nichts dafür, dass ich ruhige Orte gerne hatte. Das hatte ich auch schon vor dem großen Ganzen, vor dem, was alles verändert hatte, was mich verändert hatte.

Ich blieb stehen, schloss die Augen, konzentrierte mich auf alles andere, nur nicht auf die Stimmen in meinem Kopf.

Der Boden fühlte sich ganz weich unter meinen blanken Fußsohlen an und ich war mehr als froh, meine Schuhe im Wagen zurückgelassen zu haben. Zwar müssten meine Zehen nun längst erfroren sein, aber das Gefühl, kühle, abgestorbene Blätter, altes und verblasstes Leben unter meiner Haut zu spüren, war mit nichts anderem in der Welt zu vergleichen. Die Luft wog schwer und roch unverkennbar nach Erde, Verfaultem und einem Duft, welchen man kaum zu beschreiben wagte. Ich vernahm das Zwitschern der Vögel über mir in den abertausenden Baumkronen und das hektische Rascheln unten in den Büschen, konnte hier und da eine kleine Maus, vielleicht sogar ein Eichhörnchen meinen Weg kreuzen spüren.

Würde man mich danach fragen, ich hätte keinen Schimmer, weshalb mich der Wald so derart faszinieren konnte. Vielleicht war es das Ursprüngliche, das Empfinden, der Wald würde ewig bestehen und einen auch in folgenden Jahrtausenden noch verzaubern können. Ja, vielleicht war es das. Aber ich hatte das ungute Gefühl, dass es etwas ganz anderes war, etwas, das längst vergraben und verscharrt unter modriger, feuchter und weicher Erde des Waldes vor sich hin verweste. Wortwörtlich.

Ich zwang mich die Augen wieder zu öffnen und einen Schritt nach dem anderen voran zu gehen, bis ich diese eine bestimmte Stelle erreicht hatte. Eine Stelle, welche mir nach Jahren der unsagbar vielen Besuche längst vertraut und selbst in der sich so ähnelnden Umgebung eines Waldes für mich leicht zu finden war.

Blätter waren zerdrückt, kleine Zweige abgebrochen und ich bildete mir gar ein, seinen Geruch wahrnehmen zu können. Selbst wenn ich nicht diese offensichtlichen Details bemerkt hätte, wusste ich auch so, dass er bereits längst da war, auf mich wartete und sich nicht nehmen ließ, diese Ruhe als allererstes vollends zu zerstören.

Ich duckte mich unter Ästen hindurch, welche nach mir zu greifen schienen, wich Dornen und Spinnweben aus, tappte in seine Fußspuren, peinlich berührt, ja keine eigenen zu hinterlassen. Dabei war dieses Unterfangen vollkommen lächerlich und unnötig. Was wir vorhatten, ja, was wir vor so vielen Jahren getan hatten – es würde so oder so niemals jemand erfahren. Und dieser Ort hier, auch dieser würde nie zwei andere Menschen mehr sehen als uns beide. Sicherlich war das keine hundertprozentige Gewissheit. Aber weshalb sollte ein Mensch in unberührter Natur nach verborgenen und düsteren Geheimnissen suchen, wo es doch gar keine Anhaltspunkte für den Beginn einer solchen Suche gab?

Ich hörte seinen schweren Atem noch bevor ich ihn selbst überhaupt ausmachen konnte. Das erste, was mir an ihm auffiel, war sein strähniges Haar - oder das, was davon übrig geblieben war -, die viel zu weiten, schäbigen und verdreckten Klamotten und die dunklen Augen, welche tief in ihren Höhlen lagen und mir entgegen starrten. Er hatte mich also ebenfalls bereits wahrgenommen. Es war, als wären wir Seelenverwandte, alte und getreue Blutsbrüder, verwoben mit einem blutigen Geheimnis.

Als ich zu ihm trat und er in unserer alten Begrüßungsgeste von damals meinen Unterarm mit dem seinen umfing, spürte ich, dass kaum mehr als Haut an seinen Knochen hing und bestätigte damit meinen Verdacht, dass es so oder so nicht mehr allzu lang mit ihm gut gegangen wäre. Doch ich konnte nicht umhin, dass mich sein Äußeres ein klitzekleinwenig bestürzte. Es war, als wäre er derjenige, welcher tot war. Es war, als wäre er die faulende Leiche.

„Elljas", murmelte er und seine Stimme klang rauer, kratziger, als ich sie in meiner Erinnerungskiste trug.

„Killuah", erwiderte ich, drückte seinen Unterarm und ließ ihn dann los, um Abstand zwischen ihn und mich zu bringen.

Schweigen kehrte ein und ich war mir sicher, dass wir beide mit genau denselben lebendigen und viel zu farbenfrohen Bildern zu kämpfen hatten.

„Bist du bereit?", brachte er schließlich mühsam hervor.

Bereit? Himmel, ich war mehr als bereit. Ich wollte endlich all das hinter mir lassen – die Erinnerungen, die verdammte Kiste, mein Leben, mein Ich. Ich wollte alles neu, einen Neustart, einen Knopf drücken und noch einmal von vorne anfangen und es nie wieder mit Blut und salzigen Tränen und brodelnder Wut beenden müssen. Nie wieder.

Ich nickte. Mehr brauchte es nicht.

Er versuchte es an einem Lächeln, aber es misslang kläglich.

Noch einmal sog ich diese wundervolle Luft, die Freiheit und die ruhende Stille in mich auf, bewahrte diesen Augenblick voller Erwartungen und langsam aufkeimender Vorfreude an dem Ort auf, an dem einst mein Herz kräftig und regelmäßig geschlagen hatte.

Wir sahen uns an. Und wir wussten es beide. In diesem Moment war sie bei uns, gewährte uns ihre Aufmerksamkeit und ihr wunderschönes Lächeln, wenigstens für einen winzigen Augenblick, zwinkerte uns zu und machte alles, einfach alles besser.

Dann begann es. Der Anfang vom Ende.


You've reached the end of published parts.

⏰ Last updated: Sep 18, 2015 ⏰

Add this story to your Library to get notified about new parts!

Der Anfang vom EndeWhere stories live. Discover now