2.4 - Loreen

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Es war bereits eine Woche vergangen, seit sie erfahren hatte, wer sie wirklich war. Nach weiteren Gesprächen hatten die anderen Loreen dazu überredet, mitzukommen, um sich an einem anderen Ort alles in Ruhe zu überlegen. Sie sagten ihr sogar, dass sie wieder zurückgehen könnte, falls sie sich doch umentscheiden sollte. Dieses Versprechen machte es Loreen leichter, mit Sack und Pack aus dem Heim auszuziehen, was nicht so schwer war, wie sie anfänglich gedacht hatte. Loreen war viel zu neugierig auf diese neue Welt und sie hatte von Anfang an eine Zugehörigkeit zu den dreien gespürt, die sie noch bei niemandem empfunden hatte - fast so, als hätte ihr Wesen schon immer nach Gleichartigen gesucht.

Zwei Tage nach ihrem Einverständnis, es zu versuchen, war alles Schlag auf Schlag gegangen. Von irgendwoher hatten die drei plötzlich gefälschte Unterlagen von einem entfernten Verwandten für die Heimleitung in den Händen, um sie problemlos mit sich nehmen zu dürfen. Nach anfänglicher allgemeiner Verwirrung - Slash musste eine Weile auf die Heimleiterin einreden - hatten sie aber bald die Erlaubnis, Loreen zu dem vermeintlichen Verwandten zu fahren. Doch anstatt sie weit weg zu bringen, hatten sie Loreen in Wahrheit in ein kleines Haus gebracht, das sich nur eine halbe Stunde entfernt befand und genug Raum für sie alle bot. Es gab sogar einen Garten, der an einen See grenzte.

Das Haus war eine kleine Bruchbude - alt und etwas vermodert. Aber sie hatten es bequem und durch die Abgeschiedenheit des weitläufigen Grundstückes auch genügend Platz, um zu trainieren und Loreen zu testen. Sie hatte zwar keine Ahnung, wofür das alles gut sein sollte, aber Slash und Pure bestanden darauf, dass sie jede Aufgabe, die sie ihr stellten, mit voller Konzentration und Einsatz absolvierte. Es ging darum, festzustellen, welche Gabe genau sie von welchem Gott geerbt hatte. Dabei versuchten sie hauptsächlich, wieder ihre Essenz - die göttliche Energie - anzuzapfen, aber das fiel Loreen unter Beobachtung wesentlich schwerer. Damals im Klassenzimmer, als sie unbewusst durch Musik ihre Gabe genutzt hatte, war es reiner Instinkt gewesen, der von ihren Gefühlen geleitet gewesen war. Aber jetzt und hier, auf Befehl, bekam sie es einfach nicht hin, die gleiche Leichtigkeit zu spüren, die sie damals empfunden hatte. Da jeder eine andere Gabe besaß, wie ihr die drei erzählt hatten, musste auch jeder seinen eigenen Weg finden diese anzuzapfen. Was bei ihr partout nicht hinhauen wollte. Die Einwände und Seitenrufe von Pure, wie »jetzt mach schon was« oder »stell dich nicht so an« und »wir haben nicht ewig Zeit«, halfen auch nicht weiter. Sie beide waren sich von Anfang an nicht sympathisch gewesen, aber in Momenten wie diesen, fragte sich Loreen, ob sie ihr irgendetwas getan hatte. Die ganze Zeit beschwerte sich Pure über sie oder gluckte um Slash herum, wodurch Slash und sie nie alleine waren. Vielleicht ist sie ja eifersüchtig?, ging es Loreen durch den Kopf, nur um ihn gleich darauf vehement zu schütteln. Nein, der Gedanke war zu lächerlich.

Sky war drei Tage später hinterher gekommen und saß an den Nachmittagen am liebsten auf der Wiese und beobachtete das Treiben mit einem Apfel in der Hand. Das Obst aß er am Ende zwar jedes Mal, aber erst nachdem er es stundenlang gedreht, in die Luft geworfen und wieder gefangen hatte. Dass er dabei auch gerne mehr oder weniger hilfreiche Kommentare abgab, war keine sonderliche Überraschung.
»Du solltest versuchen dein Herz zu öffnen - das klappt immer. Oder blende alles andere aus, dann haut das schon hin. Irgendwann muss es ja funktionieren«, sagte er und kaute heftig an einem großen Stück Apfel.
Loreen rieb sich die Nasenwurzel. »Danke für den Tipp, aber wie soll ich das machen, wenn mir drei Leute zusehen und ständig blöde Tipps von sich geben.«
Ihr Kopf schmerzte, als würden kleine Nadelstiche auf ihn einhämmern. Im nächsten Moment hörte sie wieder, wie Sky geräuschvoll vom knackigen Apfel abbiss. »Und könntest du bitte mit dem Kauen aufhören.«
»Oh sorry, wolltest du auch ein Stück?«, fragte er und warf sorglos den halb gegessenen Apfel in ihre Richtung. Rechtzeitig sprang sie zur Seite und entging dem angesabberten Obst.
»Was zum Teufel?«, fluchte Slash hinter ihr und wischte sich Obstsaft und Apfelkerne von den Klamotten. Loreen hörte Sky kichern und auch Pure rang sich ein Lächeln ab. Sie erwartete schon fast, dass Slash jetzt wie eine Granate hochgehen würde, aber er verdrehte nur die Augen und zeigte mit dem ausgestreckten Finger Richtung Haus.
»Mach etwas Nützliches. Geh mit Pure trainieren oder kochen, mir egal, aber verschwinde, sonst stopf ich dir den Apfel in die Kehle.«
Anstatt zu gehorchen, fing Sky noch lauter an zu prusten und beruhigte sich erst wieder, als Pure ihn am Ärmel packte und wegzog. »Komm, Kleiner. Wir gehen. Sonst bekommst du wirklich noch Schläge.«
»Danke, Pure«, erwiderte Slash und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf Loreen. »Gut, wir sind alleine. Entspann dich. Lass einfach los.«
Er trat einen Schritt näher und legte seine Hände auf ihre Schultern. »Schließ die Augen und versuche nach deiner Essenz zu greifen. Atme ein und aus und suche nach der Gabe. Sie ist da, du hast sie schon verwendet. Du kannst das.«

Nichts konnte sie, schon gar nicht, wenn er ihr so nah war und sein Atem ihre Nase kitzelte. Trotzdem versuchte Loreen angestrengt alles auszublenden - ihre Sorgen, Ängste und das verwirrende Prickeln in ihrem Magen - und sich nur auf die Essenz zu konzentrieren. Als sie nach einer Viertelstunde noch immer nichts erreicht hatte, öffnete sie mit einem Seufzen die Augen. »Entschuldige, ich krieg es einfach nicht hin.«
Slash drückte kurz ihre Schulter, bevor er die Arme sinken ließ. »Mach dir keinen Kopf, das wird schon.«

***


Essenz der Götter I - XXL Leseprobe Where stories live. Discover now