4. Türen

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Ein Jahr nach der Trennung ihrer Eltern, hatten sich die Kinder einigermaßen damit abgefunden, dass der Vater sie verlassen hatte. Die Schwester erinnerte sich dennoch oftmals mit Tränen in den Augen an ihr letztes Treffen mit dem Vater. Mit dem Mann, der ihr das ganze Leben lang Liebe vorgegaukelt hatte und sie dann auf einer Brücke stehen ließ. Eine Stunde lang flossen ihre Tränen damals, fast so schnell, wie der Donaukanal unter ihr.

Seitdem kleidete diese Brücke sich für sie in schmerzende Faszination, selbst wenn sie es nicht wollte, so kehrte das Mädchen immer wieder zum Ort zurück, um ihrem Vater zu gedenken, der unauffindbar verschwunden war, nachdem er das Scheidungspapier unterzeichnet und den Rosenkrieg verloren hatte. Doch das Leben lief weiter seine schiefen, verworrenen Bahnen, die sich nicht immer durch das Glück und die Freude auszeichneten.

* * *

Ein zierliches Mädchen betrat mit gebeugtem und gekrümmtem Rücken den Klassenraum. Neun Wochen lang hatte sie nun, aufgrund der Sommerferien, dieser Nebenform von Hölle, namens Schule, entfliehen können, doch nun zwang man sie wieder dazu, gepeinigt zu werden. Gehänselt zu werden, von Menschen, deren Intelligenzquotient überhaupt nicht messbar war.

Als sie sich jedoch auf ihren gewohnten Platz in der letzten Reihe setzte, wichen die anderen Jugendlichen, die in einem Radius von einem Meter standen, einfach zur Seite. So blieb auch der Platz zu ihrer Linken frei. Dieses Gefühl der Ruhe währte nicht lange, da Rachels absoluter Liebling in diesem Moment, wie ein allmächtiger Gott, den Raum betrat.

"Hallo, Nilpferd! Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Da habe ich glatt vergessen, wie fett dein Hintern ist", sagte er, während er nicht einmal in irgendeiner Art und Weise versuchte, sein hämisches Teufelsgrinsen zu verstecken. "Ich wünsche dir auch einen angenehmen Morgen und einen schönen Schulbeginn", erwiderte das Mädchen, sich bemühend, dem Jungen keine Verletzung in seinem wunderschönen Gesicht zuzufügen. Wobei die einschüchternden, blauen Augen schon etwas Eigenes hatten. Ein Blick in sie jagte dem Mädchen oftmals Schauer über den Rücken.

Den schmeichelnden Spitznamen 'Nilpferd' hatte ihr seine Freundin gegeben, vermutlich nur aus Eifersucht. Glaubt mir, als neutrale Erzählerin. Glaubt mir, dass ich in dieser weiten Welt Menschen gesehen habe, die weitaus mehr Körpermasse besaßen.

Aber was sollte dieses Messen um Schönheit, Reichtum und Rang bloß bringen? Eines Tages würden wir alle, vielleicht sogar nebeneinander, unter der feuchten Erde liegen und Maden zerfräßen unsere Leiber. Dann würde sich niemand mehr um unseren Status kümmern, denn Staub ist einheitlich und lässt nichts erinnert mehr an unsere gesellschaftliche Stellung.

Kommen wir nun aber zurück zum 'Paradebeispiel' der Lebenskraft:
Unhörbar wimmernd, wand Rachel sich auf ihrem Platz. Ein weiteres Jahr unter Schikane kommt auf mich zu. Doch ich bin mir sicher, dass dies das beste Jahr ihres kümmerlichen Daseins werden würde, mit mehr Aufregung gespickt als sie in ihrem gesamten Leben je erleben durfte.

* * *

Kein Schüler lauschte der spannenden Rede der Lehrerin. Manche Jugendliche waren in ihre eigenen Gedanken versunken, während andere sich verbal und lautstark über die vergangenen neun Wochen austauschten. Man konnte anhand der Gespräche abzählen, wie viele in diesen Sommerferien ihren Urlaub in exotischen Ländern, oder der schönen Heimat, verbrachten.

Zugegeben, es war amüsant zu beobachten, dass einige Schüler zusammenzuckten, als man den unverwechselbaren Laut des Klopfens an Holz hörte.

Ein raffinierter Rhythmus war es, der nun den ganzen, stillen Raum erfüllte.

"Oh, Kinder, ich hätte fast vergessen zu erwähnen, dass ab diesem Jahr ein neuer Schüler unsere Klasse besuchen wird. Helft ihm, sich gut in die Klassengemeinschaft zu integrieren", führte die Professorin ihre packende Rede fort, die plötzlich viele Zuhörer gewonnen hatte und schlenderte zur Türe, um sie zu öffnen.

Wie kann man das als Klassengemeinschaft beschreiben? Wundervolle Bezeichnung. Dieses Etwas, bestehend aus Unterwerfung der 'Minderwertigen' unter dem Königspaar der absoluten Monarchie.

Eine Sekunde nachdem Rachel ihren Gedanken zu Ende gedacht hatte, öffnete sich die Türe und der fremde Junge trat ein.

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1.1.2016 / 00:00

Wie ist das bei euch so? (Also Klassengemeinschaft usw.)

Der NonimistWhere stories live. Discover now