Wir sterben schon.

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Sie mag tiefgreifende Diskussionen und das man Bleistift immer wieder wegradieren kann.
Sie spricht in der dritten Person von ihren Gefühlen, weil sie sich häufig so emotionsüberladen fühlt, wenn sie in der Bahn sitzt und anderen Menschen beim Sterben zuguckt.
"Es gibt kein Leben.", sagt sie, "Wir werden geboren und dann sterben wir immer nur, bis wir irgendwann tot sind."
Aber er will das nicht glauben, weil er sie liebt und er liebt ihre Traurigkeit, über die sie nie ein Wort verliert, obwohl sie sonst alle Worte verliert.
Und er weiß viel mehr als sie und er sagt viel, auch wenn er so selten spricht.
Tief im inneren ahnt er, dass sie sich überall immer Fehl am Platz fühlen wird, weil sie lieber überall laut singen würde und gerne von Hausdächern brüllt, wenn sie sich wieder leer fühlt.
Sie ist auch nicht leicht zu fassen, weil sie gerne flüchtig und flatterhaft ist und sich nie ganz festlegt, weil das Leben unstet ist und man sich nur Kameraden suchen kann, die einen durch die Dornen begleiten.
Sie sucht nicht mehr nach Kameraden.
Sie hat einen gefunden, der bleiben möchte und alle anderen sind schon gegangen oder gehen noch, aber alle gehen irgendwann.
"Auch er wird gehen.", sagt sie, "aber bis dahin möchte ich gerne seine Hand halten, wenn das Leben zu unstet wird und ich möchte seine Tränen wegstreichen, weil meine nicht mehr fließen, wenn er da ist."
 Auch wenn alle irgendwann gehen, bleibt sie da.
Auch deshalb fühlt sie sich Fehl am Platz.
Weil alle um sie herum rennen und nie stehen bleiben, aber sie steht die ganze Zeit und versucht nicht mehr etwas zu erreichen, sie versucht möglichst viel von dem Sterben um sie herum aufzunehmen.
Das hält sie nachts warm, wenn er nicht da ist.
Manchmal wacht sie auf und schreibt eine Notiz an den Tod:
Wir sterben noch immer. Viel Spaß beim Betrachten der einigen Unendlichkeit des Sterbens.

SemikolonWhere stories live. Discover now