Ein Rausch von Wörtern

Eine angenehme Wärme schlägt mir entgegen, als ich aus der kalten Herbstluft in die Bar trete. Es ist meine Stamm Bar, unter der Woche – besonders im Winter, wenn keiner mehr raus will – kaum besucht, ab freitags voll. Hier kann ich mich am besten konzentrieren, wenn ich mal wieder eine Geschichte schreibe. Ich hänge meinen Mantel an den Garderoben-Ständer und bewege mich zum Tresen, wo ich Platz nehme und mir einen Kaffee bestelle. Einen Moment halte ich noch inne, bevor ich mein kleines schwarzes Notizbuch und den Kugelschreiber aus der Aktentasche ziehe, die ich neben mir platziert habe. Mein Kaffee wird vor mir abgestellt, ich nippe an dem heißen Getränk, dann schlage ich das Buch auf.
Gerade will ich anfangen zu schreiben, da fällt mein Blick auf das Paar, welches wenige Plätze von mir entfernt in dem Gebäude sitzt. Ihre Hände berühren sich leicht, beide blicken ernst. Wenn ich genau hinhöre, kann ich wahrnehmen, dass sie reden, jedoch höre ich nur Gemurmel, keine einzelnen Worte. Die beiden habe ich eben gar nicht bemerkt. Meine Gedanken schweifen ab. Ich beobachte das Geschehen und ohne es wirklich zu realisieren entwickle ich meine eigene Geschichte dazu.

Sie kennen sich... Vielleicht ist sie seine Frau oder Freundin? Nein, sie kennen sich nur flüchtig. Vielleicht aus dem Buchladen von nebenan, vielleicht aus dem kleinen Café an der Ecke, in dem sie sich jeden Morgen einen Latte Macchiato holt, er einen Milchkaffee, bevor sie zur Arbeit gehen. Hier sind sie sich zufällig begegnet. Wer zuerst da war? Er... Sie kam nur zufällig hier her, da alles andere bereits geschlossen hatte und sie noch nicht nach Hause wollte. Sie sah ihn, sprach ihn an und die beiden verwickelten sich in ein Gespräch. Das Gespräch wird tiefer, die beiden werden vertrauter. Die schlaue, einfühlsame Buchladen-Besitzerin und der fast dauerhaft gestresste Mitarbeiter in einer großen Firma treffen hier auf einander. Was sie wohl zu reden haben? Vielleicht ist er wirklich verheiratet und hatte Streit mit seiner Frau, oder er redet über seinen stressigen Beruf. Vielleicht steht er auch vor einer schwierigen Entscheidung und brauch die Meinung einer außenstehenden Person. Hmm...unwahrscheinlich. Also wohl eher ersteres. Er könnte sich mit seiner Frau gestritten haben, musste mal raus und fuhr spät abends zu dieser Bar, die als einzige in der Nähe noch geöffnet war. Dort trifft er auf die junge Frau, die er aus dem Café und aus ihrer kleinen Buchhandlung kennt und sieht das als Chance, mit einer Frau über diesen Streit zu reden. Mit einer Frau die als Außenstehende eine objektive Sicht auf das Ganze hat, mit der er jedoch schon mehrere Male kurz geredet hat. Darum auch die ernste Stimmung, die leichte Berührung ihrer Hände. Sie spricht ihm Mut zu, teilt ihm ihre Meinung mit, versucht jedoch nicht ihn aufzuheitern, was eine engere Bindung der beiden ausschließen lässt. Dann reden die beiden noch eine Stunde, zwei, drei... Sie reden noch immer über den Streit, er überlegt sich zu trennen, da solche Streitereien öfter vorkommen. Vielleicht machen sie auch nur eine Beziehungspause, auf jeden Fall brauchen er und seine Frau Abstand voneinander, das weiß er. Sie unterstützt seine Meinung, jedoch sagt sie, er solle nichts überstürzen. Vielleicht sieht er das ja anders, wegen seinem Berufsstress, vermutet sie und er stimmt zu. Er wirkt verzweifelt, seine Lage wirkt aussichtslos. Sie rät ihm, er solle sich ein paar Tage frei nehmen, vielleicht tut weniger Stress ja seiner Beziehung gut, doch ist er sich nicht sicher, ob seiner Ehe überhaupt noch etwas guttut.

Eine männliche Stimme reißt mich aus meinen Gedanken über das Paar, sagt mir, die Bar würde jetzt schließen. Ich blicke auf, lege den Stift weg, von dem ich gar nicht weiß, wann ich ihn in die Hand genommen habe und blicke in mein schwarzes Notizbuch. Mehrere Seiten sind beschrieben mit Worten, meinen Gedanken über das Paar, welches anscheinend nie in dieser Bar saß. Den Kopf schüttelnd packe ich meine Sachen in die Aktentasche, stehe auf, ziehe meinen Mantel an und gehe, ohne ein Wort.