Nur ein kurzer Blick

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Mit mürrischem Gesichtsausdruck und den Händen tief in den Hosentaschen vergraben schlenderte Gajeel mutterseelenallein durch die dunklen Gassen von Magnolia. Er bemerkte nicht mehr, wo er war, wo er hinging und was um ihn herum passierte. Er spürte nicht die angenehme sommerliche Brise, die ihn zärtlich umwehte. Es zählte nur noch eins: Einen Fuß vor den anderen zu setzen, Schritt für Schritt. Sein Blick klebte fest an dem Muster des Kopfsteinpflasters, welches er dank seiner geschärften Drachen-Sinne auch bei spärlicher Beleuchtung wahrnehmen konnte. An diesem Muster war natürlich nichts besonders interessant und so schaffte es der Anblick nicht von seinen Augen bis in sein Bewusstsein. Gajeels Kopf war ohnehin vollkommen leer. Wenn man über eine gewisse Zeit gedankenverloren im immer gleich bleibenden Tempo spaziert, dann fällt man irgendwann in eine Art Trance. Neben Training war es für Gajeel eine der wenigen Möglichkeiten abzuschalten. Er hatte stundenlang wach im Bett gelegen und sich hin und her gewälzt, während Lily neben ihm schon im süßen wattigen Land der Träume weilte und hin und wieder zufrieden schnurrte, wenn er nicht gerade laute sägende Schnarchgeräusche von sich gab. An Lilys durchdringendes Schnarchen hatte Gajeel sich mit der Zeit gewöhnt. Das war nicht der Grund, warum er einfach keinen Schlaf fand, warum er ziellos, ruhelos und rastlos hier herum irrte.

Der Grund war natürlich niemand sonst gewesen als eine kleine, schwache und zierliche, aber dafür umso intelligentere und klügere weibliche Person mit wilden blauen Locken und einem Faible für gelbe Stirnbänder, die ihr sagenhaft gut standen. Gajeel musste einfach permanent an Levy denken und sehr oft war er deshalb übermüdet, denn ihr Bild vor seinem geistigen Auge ließ ihn einfach nicht einschlafen. Er dachte jeden Abend, wenn er mit seinen Gedanken allein im Dunkeln lag, daran, was er mit dem Zwerg schon alles erlebt hatte. Er dachte besonders daran, wie sie sich auf der Love Love Rutsche in seinen Armen angefühlt hatte – bevor ihm übel geworden war – so zart, zerbrechlich und beschützenswert, er dachte daran wie er mit ihr getanzt hatte, um sie vor den Klauen dieser zwei liebeskranken Gockel Jet und Droy zu bewahren, daran wie sie beim S-Klasse Examen mit ihrer Solid Script Magie Eisen für ihn hergezaubert hatte. Sie hatte ein kleines Herz in das Wort eingebaut. Sein eigenes Herz schlug schneller bei dem Gedanken, das sei eventuell für ihn gewesen. Vielleicht hatte sie ihm damit etwas sagen wollen? Wenn er daran dachte lag ein glückseliges Grinsen auf seinem Gesicht.

Dann fiel ihm allerdings wieder ein, wie es gewesen war, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sein Herz krampfte sich nun schmerzhaft zusammen. Eine leichte Übelkeit kam auf und ein kaltes lähmendes Gefühl strömte durch seinen Körper, wie jedes einzelne Mal, wenn er sich in Erinnerung rief, was er ihr angetan hatte. Er hielt sich diese Tatsache oft vor Augen, strafte sich selbst mit seinen Schuldgefühlen und seiner Scham. Er hasste sich selbst. Aber er liebte sie. Ja, er liebte sie, von ganzem Herzen. Sie war so rein, so sanft, so einfühlsam. Sie war sein Opfer gewesen und hatte ihn dennoch nie verurteilt. Sie sah das Gute in ihm. Er hatte kein Recht ihre Liebe zu empfangen. Er durfte es nicht so weit kommen lassen, er würde dieses engelsgleiche Geschöpf nur verderben. Selbst, wenn sie es sich wünschte, was sie sicherlich nicht tat, durfte er sie nicht berühren.

Er war ein gefühlloses Monster gewesen. Er hatte nur den Kampf, den Zorn, die Gier und den Rausch der Macht gekannt, den Rausch, den man verspürte, wenn man Schwächere einschüchterte und sie kontrollieren konnte. Die gelegentlich aufkommende Leere in ihm hatte er mit wilden Orgien oder fanatischem Training gefüllt. Bei besagten Orgien hatte er mit zahllosen Frauen geschlafen und andere unaussprechliche Dinge mit ihnen angestellt. Jede dieser Frauen war eine atemberaubende, oft auch exotische Schönheit gewesen. Keine davon hatte ihm etwas bedeutet, sie alle waren nur Spielzeuge für ihn. Oft hatte er sich rücksichtslos genommen, was er wollte, die Frauen benutzt, sich keinen Deut um die Empfindungen des Mädchens geschert. Es konnte ihm ja keiner was und wenn diese Weiber dumm genug waren, sich auf ihn einzulassen, mussten sie auch mit den Konsequenzen leben – so hatte er damals gedacht.

Nur ein kurzer BlickWhere stories live. Discover now