Kapitel 38

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Noah legt seinen Arm fester um mich und schiebt mich sanft Richtung Auto. Mein Herz klopft schnell. Ich hoffe, dass uns niemand sieht. Schweigend gehen wir zu seinem Jeep. Er steht quer über dem Parkplatz, das Licht ist noch an. Er öffnet mir die Beifahrertüre und ich klettere ins Auto.

- - -

Noah dreht die Heizung auf und fährt schweigend los. Wir verlassen die Stadt und fahren über die Landstraße nach Hause. Plötzlich bremst Noah scharf, denn mein Mini steht quer über der Einfahrt. Mir steigt die Hitze in die Wangen, doch im Augenwinkel sehe ich, dass Noah grinst. Er fährt aus der Einfahrt und parkt an der Straße.

„Ich bring dich noch rein", sagt er sanft und öffnet seine Türe. Gemeinsam gehen wir über die Einfahrt, doch vor dem Haus bleibt es dunkel, der Bewegungsmelder geht wieder nicht an. Ich höre Noahs Schritte in der Dunkelheit, höre etwas Klacken und kurz darauf ist die Einfahrt hell beleuchtet.

„Warum hast du den Bewegungsmelder ausgemacht?", fragt er und ich sehe, dass er sich streckt und eine Hand noch an dem Schalter hat. „Er ist nicht kaputt?", frage ich. „Nein", sagt Noah und kramt nach seinem Schlüssel. Er sperrt auf und tritt ins Haus.

Überall brennt noch Licht, denn ich bin einfach losgefahren. Langsam folge ich ihm durch den Flur und bleibe neben ihm stehen. Ich merke, dass ich die Erinnerung nicht ertragen kann und gehe in die Küche.

„Willst du drüber reden?", fragt Noah vorsichtig, während ich meinen Orangensaft trinke. „Nein", sage ich und schüttle meinen Kopf. Ich möchte heute nicht mehr daran denken. „Okay, ruf mich an, wenn was ist", sagt er und verlässt die Küche.

„Noah?", frage ich und höre, wie seine Schritte verstummen. Ich gehe aus der Küche und sehe ihn an. „Bleibst du bei mir?", frage ich ihn unsicher. „Willst du das denn?", fragt er und ich nicke.  „Okay", sagt er.

Ich lege mich aufdie Couch. Noah kommt zu mir, ich rutsche ein Stück und spüre, wie die Couch unter seinem Gewicht nachgibt. Vorsichtig hebt er meine Beine etwas an und legt sie sich auf den Schoß. Ich genieße seine Nähe doch ich fühle mich schlecht, weil ich ihm all das unterstellt habe. Und weil ich mit Shane geschlafen habe. Mehrmals. Weil ich ihm zugetraut habe, das er mich betrügt und weil ich ihn jetzt bitte hier zu bleiben. Ich werde mit ihm reden. Morgen, wenn ich wieder klar denken kann.

Ich spüre, dass er sich etwas zur Seite beugt und sehe, dass er die Decke zu uns zieht. Er breitet sie aus und legt sie vorsichtig über uns. Ich spüre seine Hände auf meinen Schienbeinen, seine Oberschenkel an meinen Waden. Seine Wärme strömt durch meinen Körper, seine Nähe beruhigt mich.

Als ich aufwache merke ich, dass ich auf der Couch liege. Ich bin auf der Couch eingeschlafen. Ich erinnere mich an Noahs Wärme, doch ich kann ihn nicht spüren. Ich hebe meinen Kopf und entdecke Noah auf dem Sessel. Er ist im Sitzen eingeschlafen.

Langsam richte ich mich auf, Noah öffnet seine Augen und sieht mich verschlafen an. Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht. „Hey", sagt er sanft. „Hey", sage ich und setze mich langsam auf. „Wieso sitzt du im Sessel?", frage ich ihn. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er aufgestanden ist. „Gestern war die Polizei noch hier", sagt er und deutet Richtung Haustüre. „Die sagen, dass du abgehauen bist. Du hättest mit ins Krankenhaus fahren sollen"

„Noah, ich...mir geht es gut", sage ich leise. Ich merke, wie sich die Erinnerungen an die Oberfläche kämpfen. Ich erinnere mich an Kims Worte, an ihr Schreien, ihr Wimmern, an den Atem in der Leitung, an das Blaulicht, an Kims leblosen Körper auf dem Boden, an den Sanitäter, an die Frage, ob ich schwanger bin, an Noahs Nähe und spüre Druck in meiner Speiseröhre.

„Alles ok?", fragt Noah und runzelt die Stirn. „Ja, ich bin gleich zurück", sage ich und stehe langsam auf. Mir ist schwindelig, ich bleibe eine Sekunde stehen und gehe dann langsam über den Flur, die Treppe nach oben, ins Badezimmer und übergebe mich. Schwer atmend sitze ich auf dem Boden und blicke auf die Stelle, an der neulich Kim gesessen hat.

„Lilia?", ich höre die Treppe knarzen, höre Noahs schwere Schritte näher kommen. „Hier", sage ich und merke, wie schwach ich klinge. Ich stehe langsam auf und gehe zum Waschbecken. Ich vermeide den Blick in den Spiegel und wasche mir meinen Mund aus. Noah lehnt im Türrahmen. Er sieht besorgt aus. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll, damit du verstehst, wie leid mir alles tut", sagt er plötzlich.

„Noah", flüstere ich. „Nein, Lilia. Ich wollte nicht, dass das alles passiert", sagt er, „Ich wollte nie, dass du mir nicht mehr vertraust. Ich habe einfach nicht nachgedacht und mache mir solche Vorwürfe, dass ich dich damit so verunsichert habe"

Ich halte mich am Waschbecken fest, die Kälte des weißen Keramiks schießt durch meinen Körper. „Ich muss mich setzen", flüstere ich und gehe langsam an ihm vorbei.

„Dann fahren wir erst heute Nachmittag zur Polizei", sagt er. „Polizei?", frage ich. „Naja, die haben mir gestern gesagt, dass du eine Aussage machen musst", sagt er und sieht mich an. „Oh...Okay", flüstere ich. Ich gehe ins Schlafzimmer und setze mich auf meine Seite des Bettes. Ich lehne mich in das Kissen und bilde mir ein, den Kaminholzduft zu riechen und schließe meine Augen. Ich habe keine Kraft mehr für all die Lügen. Ich muss es ihm sagen. Ich darf mich von Oliver nicht erpressen lassen und muss ehrlich zu Noah sein.

„Noah", flüstere ich. Langsam kommt er näher und setzt sich zu mir. Die Matratze gibt unter seinem Gewicht nach. Mein Herz schlägt schnell, ich nehme all meinen Mut zusammen und sage: „Ich muss dir was sagen"

„Was denn?", fragt er vorsichtig. Ich schlucke. „Ich...", sage ich und weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll. Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht, aber ich muss es ihm sagen. Jetzt. Das bin ich ihm schuldig.

„Also, ich...", sage ich und spüre seine Hand auf meinen Händen. Ich schließe meine Augen, atme ein Mal tief durch, öffne sie wieder und sage ihm das schrecklichste, das ich ihm in meinem Leben je sagen werde. „Also ich...", sage ich wieder und merke, dass ich mich seltsam anhöre, „Ich habe dich auch betrogen"

„Was?", keucht er und steht auf. Die Wärme, die seine Hand auf meinem Bauch hinterlassen hat, verwandelt sich augenblicklich in ein eiskaltes, brodelndes Feuer. „Auch?", fragt er. Er steht vor dem Bett und starrt mich an. „Ja", sage ich leise. „Verdammte Scheiße, wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich dich nicht betrogen habe?", brüllt er. Er dreht sich um und knallt seine Faust gegen den Schrank. Das Geräusch ist schrecklich, ich zucke zusammen.

„Aber...", sage ich und spüre die Tränen heiß auf meiner Wange. „Nichts ABER, verdammt", brüllt er und fährt sich mit beiden Händen durch die Haare. Ich blinzle schnell. „Aber...", sage ich wieder.

„Ich. habe. Dich. Nicht. Betrogen!", brüllt er wieder. Und es ist das erste Mal, dass ich es ihm glaube. Es ist das erste Mal, dass ich das Gefühl habe, dass er die Wahrheit sagt. Und es ist das erste Mal, dass diese Wahrheit mehr schmerzt als seine Lügen.

„Mit wem?", brüllt er plötzlich. Ich blinzle, wische mir mit meinem Ärmel die Tränen von den Wangen. „Das ist doch egal", flüstere ich und schmecke die salzigen Tränen auf meinen Lippen. Noah steht vor unserem Bett und wirkt so groß. Seine Brust hebt und senkt sich schnell. Er dreht sich um, schlägt nochmal mit seiner Faust gegen den Schrank und hinterlässt einen Abdruck seiner Wut.

„Wer von uns beiden ist hier der Lügner?", höre ich ihn brüllen, bevor er die Schlafzimmertüre zuknallt und die Treppen nach unten trampelt.

LOVE MEWhere stories live. Discover now