das Symbol der Liebe ➽ 01

54 4 2
                                    

Evelyn

Ich war nur eine von vielen. Ein Sandkorn am Strand, ein Tropfen im Meer, ein Windhauch im Gegensatz zum Sturm. So ging ich in der Menschenmasse in der Innenstadt von Brighton regelrecht unter. Ich fiel nicht auf, aber das war mir gerade recht. Menschen kamen mir entgegen, oder schwammen mit mir in eine Richtung, ohne sich gegenseitig zu beachten. Es würde gar nicht auffallen, wenn ich fehlen würde. So leicht war man ersetzbar, wie ein Paar durchgelaufene Schuhe. 

Der Wind fuhr mir durch meine langen, blonden Haare und ich strich mir mit einer unbewussten Handbewegung eine Strähne hinters Ohr, die sich sogleich wieder löste. Laut Kalender hatten wir Frühling, auch wenn dieser sich nicht so recht zeigen wollte.

Ehrlich gesagt wusste ich noch nicht einmal, wo ich hin wollte. Mir war nur bewusst, wo ich nicht hin wollte. Also liess ich mich einfach treiben; von dem kleinen Jungen mit dem Erdbeereis in der Hand, der zügig von seiner Mutter mitgerissen wurde, sodass seine Eiskugel im Nu auf den Boden fiel, von den lachenden Teenies, die sich über den neusten Tratsch den Mund fusselig redeten oder von dem Gitarre-tragenden Mann. Auf einmal öffnete sich der Himmel und viele Regentropfen sanken zur Erde. Sogleich wurden die Bewegungen der Menschen schneller, suchten sich einen trockenen Unterschlupf, spannten die Schirme auf, als hätten sie Angst sich aufzulösen, wie Zucker im Tee. Ohne mich beirren zu lassen, ging ich weiter meinen Weg, den meine Füße mir vorschlugen.
Ich liess zahlreiche Boutiquen, Tante-Emma-Läden, Restaurants und Cafés hinter mir. Aus irgendeinem Grund blieb ich vor einem Geschäft stehen, als würde es mich magisch anziehen. Das Schaufenster - es war nicht überbeladen, oder stahl wem anderes die Show - und trotzdem klebten meine Augen genau vor dieser frisch geputzten Scheibe beziehungsweise an das, was dahinter lag. Mir gefiel es, dass es sich unter keiner Hülle verbarg, überladen mit irgendwelchen Dekorationen, wie es sonst üblich war. Keine Verpackung, kein ausschmücken war nötig, um die Musikinstrumente zu präsentieren. Unbewusst trat ich näher und liess meine Nase Bekanntschaft mit dem Fensterglas machen. Die Gitarre sah wunderschön aus und glänzte mir entgegen. Sie schien aus Mahagoni-Holz angefertigt zu sein. Der Wunsch an den Seiten zu zupfen wuchs. Ich riess meinen Anblick von der akustischen Gitarre und liess ihn durch den Raum gleiten. Auf dem Boden lagen die verschiedensten Musiknoten verstreut. Gitarren- und Musikhaus bei Ho... Eine ruckartige Bewegung machte ich im Haus-inneren aus und lenkten mich von dem Schild ab. Soweit ich erkennen konnte, befanden sich zwei blonde Personen darin und es sah nicht so aus, als würden sie sich vertragen. Ihre Gesichter waren von Wut verzerrt, sie gestikulierten wild mit den Händen und schrien sich an. Eine der beiden ging so weit, dass sie eine Gitarre zu Boden riss und dann von der Bildfläche verschwand. Der andere liess sich zu Boden fallen und drehte sich plötzlich in meine Richtung. Ich zuckte zusammen ehe ich die Kontrolle meiner Beine wieder erlangte, um weiterzugehen. 

Mit schnellen Schritten steuerte ich die Richtung an, die ich den ganzen Tag schon gemieden hatte. Irgendwann musste man sich seinen Ängsten stellen und ich rede nicht von der Angst, die in einen aufstieg, wenn man den Arzt mit einer Spritze in der Hand sah. Mittlerweile - dank meiner durchgeweichten Kleidung - fing ich an zu frieren und die Tatsache, dass die Umhängetasche bei jeder Bewegung mir in die Kniekehle drückte, machte es nicht gerade besser.     

Meine Augen huschten von dem Angst einflössenden Aufzug, zu den Treppenstufen und wieder zurück. Eigentlich hätte ich früher nicht lange überlegen müssen und auch heute lag es auf der Hand, mit nur einem Unterschied. Heute wählte ich den viel zu eng geratenen Kasten, der mich in die gewünschte Etage führte. Mit einem Pling öffnete sich die Fahrstuhltür, die ein Haufen Menschen ausspuckte. Nachdem der Weg frei war, betrat ich skeptisch den Aufzug. Ich drückte die Vier - da musste ich hin. Eine halbe Sekunde verstrich und die Türen schlossen sich. Ich beobachtete dem Schauspiel, in der Hoffnung jemand würde sich noch dazwischen drängen, um mir Gesellschaft zu leisten, aber ich stand alleine im Fahrstuhl, den Rücken an der versiegelten Wand lehnend. Mit einem Ruckeln setzte sich das unheimliche Ding schliesslich in Bewegung.
Ich umfasste mit beiden Händen die Reling, die sich durch den ganzen Fahrstuhl zog. »Mach, dass es schnell vorbei geht« murmelte ich und kneifte beide Augen zu. Vielleicht ging es so leichter eine regelmässige Atmung wiederzufinden. Ich war mir nicht sicher, wenn ich den Aufzug der endlosen Treppen vorzog, mein Herz dadurch schonte, denn es pochte mir bis zum Hals, als würde es jeden Moment aus meiner Brust schlagen.

Die Angst vor Fahrstühlen war schon immer, seit ich denken konnte, vorhanden. Ich wusste nur nicht, wieso. Vielleicht lag es daran, dass man auf noch so kleinen Raum verharren musste, an die aufsteigende Panik, das Gerät hörte auf sich zu bewegen und man darin gefangen gehalten würde, ohne Sonnenschein und frischer Luft, bis jemand einen zur Hilfe eilte.

Ich bildete mir schon ein, dass die Wände mir immer näher kamen, sodass ich mit glänzenden Augen feststellte, dass ich in der vierten Etage angekommen war, als der Aufzug stehen bleib. So schnell ich konnte, schlüpfte ich hinaus.

Meine Finger fuhren durch die noch nassen Haare, um sie auf eine Seite zu legen.

Noch einmal atmete ich tief durch und griff dann nach der Türklinke um sie herunterzudrücken. »Hallo, ich habe ein Termin bei Dr. Lancaster« Während ich das sagte, wühlte ich schon in meiner Tasche, die mir über der Schulter hing, auf der Suche nach meinem Portmonee, worin sich meine Krankenkarte befand. Als ich sie schliesslich in meinen Händen hatte, überreichte ich diese sogleich der Arzthelferin.

»Ah, Miss Price. Sie sind aber spät dran« stellte die Brünette mit einem Blick auf die Uhr fest. Dabei tippte sie wie eine Wilde auf der Tastatur herum.

»Tut mir leid« Ich biss mir auf die Unterlippe. »Ich hab die Zeit ganz vergessen« log ich ohne Rot zu werden.

Sie winkte ab. Mit einem aufgesetzten Lächeln im Gesicht verkündete sie »Bitte nehmen Sie noch einen Moment im Wartezimmer Platz« und reichte mir die Karte zurück, sodass ich ihre rot lackierten Fingernägel betrachten konnte.

Wie gesagt, bewegte ich mich zum zitronengelb-gestrichenen Raum und setzte mich in einen der Sessel. Ich nahm mir die oberste Zeitschrift vom Stapel und begann darin herumzublättern, ohne wahrzunehmen, worum es darin eigentlich ging.

Meine Gedanken schweiften ab und drehten sich nur um ein Thema.

Sollte man nicht annehmen, dass man nach der Herztransplantation Vorlieben oder sogar Charakterzüge des Spenders übernimmt? Ja, vielleicht sogar ab den Zeitpunkt an den eigenen Körper mit der Seele des Spenders teilen muss?

Ich wurde in ein anderes Zimmer geführt, aber das bekam ich nur am Rande mit. Jemand schob mich vor sich her bis er mich in einen Stuhl drückte.
Ein Händedruck wurde ausgeübt. Der Mitte dreißig alte Mann richtete Worte an mich. Die aneinander gereihten Buchstaben mussten mich betreffen, denn seine blauen Augen trafen auf meine, aber sie erreichten mich nicht als hätte mir jemand Watte in die Ohren gestopft. Ich nickte drei Mal - nicht schnell, sondern langsam und bedacht. Ich traute meiner Stimme nicht. 

Wenn ich die Augen nach der Transplantation aufschlagen werde, wachte ich dann als jemand neues auf?

»Ist es möglich, dass ich nach der Transplantation jemand anderes sein werde. Jemand mit anderern Eigenschaften, oder vielleicht mag ich von heute auf morgen plötzlich Sushi anstelle von Cannelloni und ... « teilte ich meine Gedanken mit. 

»Das Herz ist bloss ein Organ, dessen Funktion nichts mit einer Veränderung der Persönlichkeit seiner selbst zu tun hat, Miss Price. Ich kann ihre Ängste verstehen, aber diese sind völlig unbegründet« sind die Worte, die mir Erklärung schenken sollten und dennoch blieb die Angst bestehen. Immerhin wird das Herz nicht zuletzt mit Gefühlen und Emotionen verbunden. Es ist das Symbol der Liebe schlechthin. 

»Ich weiss, dass Sie wissen, wie schwer es ist - dank den strengen, einheitlichen Richtlinien, die die Verteilung der Spenderorgane bestimmen. Es sollten Bedingungen erfüllt sein. Gewicht, Körpergröße und Blutgruppe des Spenders und des Empfängers müssen übereinstimmen. Nun Sind sie im Endstadium«

 »Ich bin im Endstadium« bestätigte ich leise.

 »Und so wie es aussieht, müssen Sie nun nicht mehr länger warten. UK transplant hat Ihr Spenderherz gefunden«

Ich traute meinen Ohren nicht.  »Können Sie das noch einmal wiederholen, bitte?«

Ich konnte es immer noch nicht glauben, auch nicht als ich über die Türschwelle unserer Wohnung tritt. Vielleicht träumte ich nur. Ich war kurz davor, mir in meinem Arm zu zwicken, um zu beweisen, dass ich mich in einem Traum befand. Unbewusst legte ich eine Hand auf die linke Brust, um meinen Herzschlag zu spüren. Niemand konnte sagen, wie lange mein Herz die Kraft noch aufbringen konnte weiter zu schlagen, um das Blut durch die Venen zu befördern.    

Ich schloss die Tür hinter mir und rief »Hey. Ich bin wieder Zuhause«  

Dark Paradise [nh]Where stories live. Discover now