2. Anmut

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Der Lehrer redete, erzählte etwas über das alte Rom, doch der Junge in der letzten Reihe mit den verwuschelten Haaren hörte ihm nicht wirklich zu. Dabei las er nicht einmal heimlich im Unterricht, wie er es sonst immer tat. Tom schaute zu dem Mädchen hinüber, dass eine Reihe vor ihm in seinem Geschichtskurs saß. Ganz links hatte sie ihren Platz. Weit weg von Tür und Fenster. Sie saß alleine und schrieb etwas. Es war das Mädchen von gestern.

Dass sie den Unterricht mitschrieb, so wie sie es tun sollten, bezweifelte er wiederum stark. Niemand schrieb den Unterricht bei Herrn Bäumer mit. Tom würde sich, wie all die anderen aus seiner Klasse, kurz vor der Klausur die Seiten im Buch durchlesen, den Spickzettel präparieren und passende Internetseiten raussuchen. Herr Bäumer bemerkte nichts.

Doch die Klausur interessierte Tom momentan nicht. Er war fasziniert von dem Mädchen, dass ihm seit gestern nicht mehr aus dem Kopf ging. Tom hatte sie zuvor nie in seinem Kurs wahrgenommen.

Jetzt fühlte es sich für ihn an, als würde sie den gesamten Raum einnehmen. Tatsächlich bemerkte nur er ihre Ausstrahlungskraft. Keiner, ausgenommen dem Jungen, würdigte dem Mädchen in der zweiten Reihe auch nur eines Blickes. Für seine Mitschüler war sie nicht existent - so wie für ihn einen Tag zuvor.

Jetzt schaute sie kurz auf, blickte mehrere Sekunden den Geschichtslehrer an und senkte wieder den Blick auf ihren Zettel. Gleichzeitig mit dieser scheinbar banalen Bewegung des Mädchens wurde Tom klar, dass er im Grunde überhaupt nichts über seine Mitschülerin aus der zweiten Reihe wusste. Sie war für ihn ein Mysterium. Ein ungelüftetes Geheimnis, dass nicht nur in seiner Fantasie real war, das nicht nur seinen Büchern entsprang, sondern auch in der Wirklichkeit existierte.

Dieses Mädchen saß vor ihm in der zweiten Reihe und schrieb. Leise seufzend senkte er den Kopf, kramte sein Taschenbuch hervor und begann zum ersten Mal in dieser Geschichtsstunde zu lesen. Er entfernte sich von den alten Römern, seinen Tagträumen und Gedanken und stieg ein in einen wundervollen Thriller über Freundschaft, Liebe, Rollenspiele und alte Mysterien. Mysterien, die niemals Wirklichkeit werden würden - und das wusste der Junge mit den verwuschelten Haaren.

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