Sehnsucht

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Als der Wecker klingelte war ich quasi zum ersten Mal in meinem Leben glücklich aufstehen und zur Schule gehen zu können. Ja ich weiß, das klang total nach verkehrter Welt. Welcher Teenager war bitte schön happy darüber sich mitten in der Nacht aus dem Bett zu hieven um dann den ganzen Tag mit größtenteils inkompetenten Lehrern in der Schule zu verbringen? Aber jetzt kam es mir wie das Beste der Welt vor, denn ich hatte das ganze verfluchte Wochenende Zuhause gehockt. Ohne Laptop, Handy, Fernseher oder die Möglichkeit sich mit Freunden zu treffen. Moderne Folter würde ich mal sagen. Es waren mit Abstand die langweiligsten zwei Tage meines Lebens gewesen. Ich hatte einfach rein gar nichts zu tun gehabt. Meine Hausaufgaben hatte ich schon Samstagmittag fertig gehabt. Ich hatte Spanischvokabeln gelernt und vor lauter Langeweile sogar mein Zimmer aufgeräumt und ein Buch gelesen, das schon seit Weihnachten unangetastet in meinem Regal gestanden hatte.

Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass ich schon seit über sieben Tagen Aiden nicht mehr gesehen hatte. In der Schule war es letzte Woche zumindest noch erträglich gewesen, weil ich dort abgelenkt gewesen war und Scarlet hatte, die einen super ablenken konnte.

Ich vermisste nicht nur Aiden, sondern auch Nalina und Cathy und das Meerjungfrausein selbst. Mit einem Fischschwanz wie ein Torpedo durchs Wasser zu zischen und ganz nah zwischen bunten Fischen zu schwimmen war einfach ein unglaubliches Erlebnis. Es war, als würde mein ganzer Körper sich nach dem Wasser sehnen, danach wieder in sein Element zurückkehren zu dürfen. Es war seltsam. Jahrelang hatte ich nichts von der ganzen Sache gewusst und es auch nicht vermisst und jetzt fühlte ich mich plötzlich richtig unwohl in Menschengestalt.

Ich zog mir eine Jogginghose und ein langweiliges, ausgewaschenes T-Shirt an. Eigentlich hasse ich diesen Penner-Look und bis vor einer Woche hätte ich definitiv jeden ausgelacht, der mir gesagt hätte, dass ich jemals in Ich-bin-krank-Klamotten das Haus verlassen würde. Hauptsächlich lief ich in diesen Sachen herum um meinem Dad etwas zu beweisen. Ich wollte rebellieren und ihm zeigen, dass ich zumindest noch ein bisschen selbst entscheiden konnte.

Als ich in die Küche kam saß mein Vater schon am Tisch und trank seinen allmorgendlichen, schwarzen Kaffee. Seit ich Hausarrest hatte nutzte er seine Gleitzeit bei der Arbeit und fuhr mich zur Schule. Früher hätte ich mich über diesen Service total gefreut, aber jetzt hätte ich nichts lieber getan, als mit dem Bus zu fahren.

„Du bist spät dran, Louisa.“ Begrüßte mich mein Vater und sah nur kurz auf.

„Einen wunderschönen guten Morgen auch dir und danke, dass du gefragt hast, wie es mir geht. So freundlich! Mir geht’s übrigens beschissen und dir?“ Ich weiß, dass ich ihn nicht noch zusätzlich anstacheln sollte, aber ich kann einfach nicht anders. Ich bin halt manchmal biestig und sarkastisch. Punkt.

Mein Dad überging meinen Kommentar, stand auf und ging zur Tür. Im Türrahmen drehte er sich nochmal um.

„Nun komm schon, Louisa. Ich habe dir doch gesagt, dass wir spät dran sind, weil du mal wieder getrödelt hast.“ Ah, er hatte definitiv einen schlechten Tag. Knurrende Köter sollte man lieber nicht auf den Schwanz treten, deshalb ging ich, ohne etwas zu sagen, hinter ihm her zum Auto.

Wie jeden Morgen steckten wir in der Rush-Hour fest. Wieso mussten wir auch genau über die Hauptstraße fahren, die zu dieser Zeit immer besonders vollgestopft war? Ich machte das Radio an und mein Vater schaltete es sofort wieder aus. Na klasse, der hatte ja super schlechte Laune heute. Damit meine ich, noch schlechter als sonst.

Ich war unheimlich froh, als wir endlich vor der Schule hielten. Kaum kam der Wagen zum Stehen, stieß ich die Tür auf und floh nach draußen. Ich hörte noch das „Ich hol dich nach der Schule wieder hier ab“ von meinem Gefängniswärter, Verzeihung „Vater“, bevor ich die Autotür zuknallte.

AQUA - Stimme des Meeres (abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt