Kapitel 2

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Ich spürte, wie ich hin und her gerüttelt wurde. Wem fiel es ein, mich so unsanft zu wecken? Verschlafen öffnete ich ein Auge und sah Zoes Gesicht in Nahaufnahme vor mir. „Bist du jetzt wach?", fragte sie mich. „Nein!", zischte ich laut, schloss mein Auge wieder und drehte mich um. Aber hier konnte man nicht mal eine Minute lang seine Ruhe haben... „Mama!", brüllte Zoe in voller Lautstärke. Ich hätte ihr in dem Moment den Hals umdrehen können! Denn immer, wenn sie unsere Mutter rief, war das ein Anfang einer langen Diskussion, in der ich immer als böse und Zoe immer als das Opfer dargestellt wurde. Wer dann gewann, war ja wohl klar. Um diesem Gespräch und der Moralpredigt danach zu entkommen, stand ich wehmütig auf und taumelte hinter meiner Schwester her in den Frühstücksraum. „Ist etwas passiert?", erkundigte sich unsere Mutter besorgt. Ich warf Zoe einen Blick zu, der so viel bedeutete wie: Sag jetzt bloß nichts Falsches! Sonst weiß ich nicht, wie lange du noch Spaß an diesem Urlaub hast! Zoe hatte mich verstanden und setzte ein zuckersüßes Lächeln auf. „Nein Mommy." Dabei legte sie den Kopf schief und meine Mutter schmolz dahin. Niemand konnte meiner kleinen Schwester mit ihren hellblauen Augen und ihrem Hundeblick widerstehen. Was mich leider manchmal um das letzte Stück Kuchen brachte, wenn sie so bettelte. „Warum" habt ihr den nervigsten Wecker aller Zeiten zu mir geschickt um mich so früh aus dem Schlaf zu reißen „mussten wir so früh aufstehen?", fragte ich und hoffte, dass mein Tonfall nicht zu scharf klang, denn das regte meine Mutter fast noch mehr auf als Streit. Mein Vater, der bisher ruhig seinen Kaffee getrunken hatte, meldete sich nun zu Wort. „Heute findet in Taormina, also in unserer Nachbarstadt, ein kleiner Markt statt, den wir alle gemeinsam als Familie besuchen werden", verkündete er und sah sich Beifall herrschend um. Von mir erntete er nur einen entsetzten Blick, denn wenn es etwas Nervigeres gab als Familienurlaub, dann langweilige Familienausflüge.

Ein kleiner Markt also, dachte ich, als wir auf einem großen Hügel standen und von dort aus alle Verkaufsstände überblicken konnte. Ein kleiner Markt war die Untertreibung des Jahrhunderts! Die Stände bildeten zusammen ungelogen eine kilometerlange Schlange. Wie ich mitbekam, als meine Familie sich mit in das kauflustige Getümmel stürzte, war das Adjektiv „eng" wohl das Markenzeichen von Italien. Ohne die Hilfe meiner ausgefahrenen Ellenbogen, hätte ich mich niemals durch die Menschenmasse drängen können. Noch dazu liefen alle Besucher des Markts unfassbar langsam, so, als wollten sie jeden Stand einzeln auf jedes Staubkörnchen überprüfen. Am Anfang dachte ich, wir hätten wenigstens Glück damit, dass die Sonne schien und wir keinen Windhauch spürten. Aber nach zehn Minuten änderte sich meine Meinung schlagartig. Die Sonnenstrahlen knallten auf uns herunter und sowohl mein Top als auch meine Shorts klebten an meiner Haut. Ein ekelhaftesGefühl! Ich konnte nicht mehr klar denken und nahm sogar einen Sonnenhut an, den mir meine Mutter überreichte. Und das, obwohl an ihm eine total peinliche, pinke Schleife befestigt war! Anscheinend war mein Niveau in dem Moment schon so tief gesunken. Zur Verteidigung des hässlichen Huts: Er erfüllte wenigstens seinen Zweck. Nach kurzer Zeit formte sich der Brei in meinem Kopf wieder zu einem Gehirn und mir ging es zumindest so gut, dass ich diese Ferien innerlich wieder verfluchen konnte. Meine Beine jedoch wurden immer schwerer, weshalb ich sehr froh war, als wir nach Ewigkeiten am Ende des Markts angekommen waren und uns an einen Brunnen setzten. Bestimmt hatte ich nun Blasen an den Füßen. Aber das vergaß ich zu meiner Verwunderung ziemlich schnell, als mein Vater der ganzen Familie ein Eis spendierte. Ich hatte mich bewusst gegen Schokolade entschieden und lieber Stracciatella genommen. Davon bekam man nämlich braune Flecken umden Mund, die man nicht mehr so leicht mit der Serviette abputzen konnte, wie es sich bei Zoe herausstellte. Schließlich war jeder mit seinem Eis fertig und wir standen auf, um zu unserer Ferienwohnung zurückzukehren. Auf einmal wurde ich hellwach, obwohl ich gerade noch träge hinter meinen Eltern hergelaufen war. Um von dem Platz mit dem Brunnen aus in Richtung der Ferienanlage zu gelangen, mussten wir an einer Dreipersonengruppe vorbei. Und wie es der Zufall wollte, gehörte der Junge, den ich mit seinem Hund getroffen hatte, zu dieser Gruppe. Ich wurde stocksteif und versuchte möglichst unbemerkt an ihm vorbeizukommen. Es wäre sehr peinlich, wenn er mich mit meiner Familie sehen würde! Schließlich sahen wir alle aus wie typische Touristen, die immer eine Landkarte und Kamera bei sich hatten! Warum interessiert es dich, was er über dich denkt?, fragte ich mich selber plötzlich. Hätte ich das Denken bloßgelassen! Denn dadurch war ich abgelenkt und lief immer noch verkrampft an dem Jungen vorbei. Blöd nur, dass dort ein Blumentopf im Weg stand! Ich stolperte, schrie auf und fiel mit einem dumpfen Schlag zu Boden. „Alles okay bei dir?", hörte ich eine Stimme über mir. Nein, das durfte einfach nicht wahr sein! Ich traute mich zuerst nicht, den Kopf zu heben, tat es dann aber doch. Ich schaute in ein bekanntes Gesicht. Oder, um es genau zusagen, ich sah ein grünes Funkeln. Ein grünes Funkeln umrahmt von dunkelbraunen Haaren. Da ich nicht antwortete, wiederholte der Junge: „Geht es dir gut?"„Ähm, ja..." Ich drehte meinen Kopf, um den Jungen nicht mehr anstarren zu müssen, bemerkte dann aber noch etwas Schlimmes. Neben mir lag der Sonnenhut mit der Schleife! Ich hatte ich noch die ganze Zeit aufgehabt! Jetzt brauchte ich noch eine rettende Idee. Also nahm ich den Hut und drückte ihn Zoe in die Hand. „Hier Zoe, äh, du hast, ähm, deinen Hut verloren", stotterte ich. Am liebsten hätte ich mir selber einen Facepalm für diese dämliche Aktion gegeben. Erstens, hatte er genau gesehen, dass ich den Sonnenhut getragen hatte und zweitens, trug Zoe selber schon eine Kappe. Dem Jungen schien das nichts auszumachen, er hielt mir einfach nur seine Hand hin. Ich griff danach und ließ mich hochziehen. Als ich wieder fest auf beiden Beinen stand, hielt ich immernoch seine Hand in meiner. Er hatte überraschend dünne Finger und Knöchel. Ich betrachtete seine Hand noch kurz, dann ließ ich sie los und klopfte mir den Schmutz von den Knien. Zum Glück war nichts aufgeschürft. Der Junge blieb noch kurz abwartend stehen, dann wurde er gerufen. „Manuel!" Während er zu den zweianderen Personen zurückkehrte, dachte ich nur über ihn nach. Er hieß also Manuel.

Ein Urlaub ohne MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt