Heute in Deutschland

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Heute in Deutschland: Flüchtlingskrise.

"Die Zahl der von Flucht und Vertreibung betroffenen Menschen hat nach Angaben der Vereinten Nationen ein trauriges Rekordniveau erreicht. In Nigeria sind Millionen Menschen vor der Terrormiliz Boko Haram auf der Flucht - und ihre Lage wird immer dramatischer. Nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen sind in einem Flüchtlingslager seit Ende Mai knapp 200 Menschen an Unterernährung und Durchfall gestorben."
Ich gähnte gelangweilt, schaltete den Fernseher aus und ging in die Küche, wo mein Bruder gerade einen Teller mit Auflauf aus dem Kühlschrank zog, den meine Mutter ihm vom Mittagessen aufgehoben hatte. "Fährst du nachher zum Tennisclub?", fragte ich und schenkte mir ein Glas Wasser ein. "Vergiss es!", entgegnete er gelangweilt und versenkte die Gabel in seinem Essen, verzog jedoch im selben Moment angewidert das Gesicht. "Wieso tut Mama einfach jedes Mal Zwiebeln in den verdammten Auflauf?! Sie weiß doch, dass ich Zwiebeln nicht ausstehen kann!", meckerte er und kippte genervt den gesamten Tellerinhalt in den Müll. "Ich hab dich ja noch nicht mal gefragt, ob du mich wo hin fährst", warf ich ein. "Ja; noch nicht", erwiderte er. "Ach komm schon, du fährst doch sowieso in die Richtung! Außerdem hat Papa gesagt, dass du mich ab und zu irgendwo hin fahren musst, wenn er dir den BMW kauft", versuchte ich weiter, ihn zu überzeugen. "Er hat auch gesagt, dass du dich nicht mehr mit diesem Nigger treffen sollst", gab er zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. "Hör auf, Jamal immer so zu beleidigen!", rief ich beleidigt. "Jedes mal das Gleiche, er hat dir nichts getan! Wann bist du bitte so ein Rassist geworden?!", schrie ich und verließ wutentbrannt die Küche. "Nur, weil du meinst, immer einen auf Mutter Theresa machen zu müssen, brauchst du noch lange nicht von mir zu erwarten, dass ich Mitleid mit diesen elendigen Schnorrern habe!", rief er mir hinterher, doch ich ignorierte ihn einfach. Ich schnappte mir meinen Schlüssel und mein Handy von der Anrichte und knallte die Haustür hinter mir zu.

Seitdem etwas außerhalb der Stadt ein Flüchtlingsheim eröffnet worden war, war mein Bruder noch ausländerfeindlicher, als zuvor. Und das, obwohl sein bester Freund Türke war. Dessen Eltern waren vor etwas mehr als zwanzig Jahren nach Deutschland ausgewandert. Nur, weil sie mittlerweile ein eigenes Unternehmen besaßen und ein relativ großes Vermögen angehäuft hatten, bedeutete das noch lange nicht, dass er deswegen ein besserer Mensch war, als jeder andere Migrant hier.

Bereits als ich die verrostete Eisentür der alten Fabrikhalle auf drückte, schlug mir dieser ekelhafte, beißende Geruch entgegen, der sich durch das gesamte Gebäude zog. Die Luft hier drin war wie immer furchtbar, es roch irgendwie nach Fäulnis, so als ob jemand hier rein gekrochen und dann gestorben wäre. Ich schlich durch die kahlen Gänge, vorbei an den nackten Betonwänden und den starrenden Blicken der Bewohner des Flüchtlingsheims, bis ich schließlich vor einer dunkelblauen Metalltür stand, von der bereits der halbe Lack abgeblättert war. Als ich klopfte, blickte ich kurz darauf in die strahlenden braunen Augen Jamals. "Hey", sagte ich. Er lächelte und trat einen Schritt zur Seite, um mich in sein "Zimmer" zu lassen. Ich betrat den kleinen, fensterlosen Raum und setzte mich auf eine der Matratzen, die auf dem Boden lagen. Vor den weißen Steinwänden hingen an Wäscheleinen die wenigen Kleider, die Jamal und sein Bruder besaßen. Die meisten davon stammten aus der Altkleidersammlung. Jamal streckte mir einen Teller mit Reis und etwas Fleisch entgegen. Ich schüttelte lächelnd den Kopf, woraufhin er sein Essen wieder zur Seite stellte. Die Menschen hier bekamen nur eine warme Mahlzeit am Tag, welche meistens nicht wirklich üppig ausfiel. Und dennoch war er bereit, sie mit mir zu teilen. Obwohl er wusste, dass ich in einem großen Haus wohnte. Dass mein Vater die neuste A Klasse fuhr. Und dass ich zu Hause immer einen vollen Kühlschrank hatte. Er hingegen war dankbar, dass er überhaupt hier sein durfte.

Jamal stammte aus dem Senegal. Er war vor einem halben Jahr mit seinem jüngeren Bruder nach Deutschland gekommen. Seine Mutter war bei dessen Geburt gestorben und sein Vater war bei einem Raubüberfall auf offener Straße erschossen worden. Zumindest hatte ich das so verstanden, denn Jamal sprach nicht wirklich gut Deutsch. Aber er lernte schnell und er gab sich wirklich Mühe. Er sagte, er wolle arbeiten, um Geld zu verdienen, damit er seinem Bruder eine Ausbildung ermöglichen konnte. Jamal war 19, genau, wie mein Bruder. Nur, dass dieser keinen Finger krumm machte. Weder zu Hause, noch in der Schule. Letztes Jahr hatte er deswegen eine "Ehrenrunde" gedreht und dieses Jahr sah es nicht wirklich viel besser aus mit seinem Abitur. Eigentlich hätte er Architektur studieren sollen, weil mein Vater wollte, dass er eines Tages seine Baufirma übernahm, aber ich bezweifelte, dass das jemals was werden würde, denn mein Bruder war eine absolute Niete in Mathe und sah im Gegensatz zu Jamal keinen Grund, irgendetwas lernen zu wollen. Für Jamal jedoch war lernen ein Privileg.  
Als ich meinen Vater gefragt hatte, ob er Jamal nicht auf dem Bau arbeiten lassen konnte, war er fast ausgerastet. Wie ich es wagen könne, ihn um so etwas zu bitten. Mein Vater hatte viele Bauarbeiter aus Rumänien engagiert, die auch nicht wirklich gut Deutsch sprachen. Sie arbeiteten den ganzen Tag, obwohl sie nicht sonderlich viel Geld dafür erhielten. Für Jamal wäre das noch immer ein halbes Vermögen. Aber Jamal war schwarz, deshalb mochte mein Vater ihn nicht.
Ich hatte nie verstanden wieso.

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