Prolog

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Kurz vor meinem siebten Geburtstag beginnt mir meine Mutter tausende von Zöpfen ins Haar zu flechten, zusammen mit vielen bunten Bändern. Sie braucht mindestens drei Stunde dafür. Zwischendurch müssen wir eine Pause einlegen, denn ich kann nicht so lange still sitzen. Mama schickt mich raus aus der Wohnung, ich soll eine Runde um den Block rennen. Ich laufe zwei und stelle mir vor, wie lustig ich aussehen muss. Ein kleines Mädchen, das auf der Straße rumläuft, die eine Hälfte der Haare in Zöpfen, die andere noch nicht.

Als Mama nach einer Ewigkeit endlich fertig ist, weint sie. Sie umarmt mich ganz fest, so fest, dass ich meine Rippen knacken höre. Jetzt will sie, dass ich ihr vorlese. Ich bringe das Buch über Max und Moritz aus meinem Zimmer. Über die Streiche muss sie immer lachen. Nur heute nicht.

Sie geht zum Medikamentenschrank und nimmt die Pillen heraus, die sie glücklich machen sollen. Ich glaube, sie funktionieren nicht so richtig. Mama ist trotzdem traurig.

Mama schüttet die ganze Dose in einen Topf, ein bisschen Kakaopulver hinterher und gießt Milch darauf. Ich sitze daneben und beobachte sie angeekelt. Ich mag keinen Kakao. Nur den von Karin, meiner besten Freundin, weil ihre Mama echte Schokolade benutzt.


Mama schenkt zwei Tassen ein. Eine größere für sich selbst und eine kleinere für mich. Auf meiner sind Findus und Petersson. Eigentlich mag ich die mit Rotkäppchen und dem großen, bösen Wolf lieber, aber wenn ich was sage, weint Mama vielleicht wieder und das will ich nicht.


"Trink!", bittet sie mich und versucht zu lächeln.


Vorsichtig nippe ich an meiner Tasse. Es schmeckt ekelhaft und ich verbrenne mir die Zunge. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Ich schüttle mich.


Meiner Mama fällt das nicht auf. Oder es ist ihr egal. In letzter Zeit ist ihr vieles einfach egal. Papas Pflanzen, die Briefe aus der Schule, ihre Arbeit, alles egal. Manchmal habe ich Angst, dass ich ihr auch egal bin.

Sie stürzt ihren Kakao hinunter, ich bin mir sicher, dass sie sich verschlucken muss. Aber das tut sie nicht. Sie sieht erleichtert aus. Entspannter als je zuvor. Dabei müsste sie sich doch eigentlich die Zunge verbrannt haben.
Leicht schwankend steht sie auf und umarmt mich. Ihre Hände streichen mir über den Rücken und über mein Haar. Sie küsst meine Stirn, meine Wangen, meine Nase. Ihr Gesicht ist nass von ihren Tränen.


"Trink deinen Kakao!", flüstert Mama, "Ich liebe dich! Bald sind wir bei Papa. Und dann ist alles gut."


Jetzt geht sie in ihr Schlafzimmer, obwohl es noch nicht einmal dunkel ist und sie ihre Zähne noch nicht geputzt sind. Aber das vergisst sie öfters, wenn es ihr schlecht geht.
Ich gebe mir wirklich Mühe die Tasse leer zu trinken. Ich will, dass Mama stolz auf mich ist. So wie früher, als Papa noch da war.


Ich versage. Nach einer halben Tasse wird mir übel und ich muss mich übergeben. Weinend laufe ich zu Mama. Sie liegt auf dem Bett und hat die Augen geschlossen. Sie reagiert nicht, auch nicht, als ich ihr erzähle, was mir passiert ist. Also lege ich mich einfach zu ihr, kuschle mich ganz fest an ihren Bauch. Höre ihr beim Atmen zu. Irgendwann muss sie ja wieder aufwachen. Und bis dahin bin ich sicher wieder gesund.


Schrei, den keiner hörtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt