Kapitel 22: Meine Gefühle lasse ich nie wieder in einen Erlebnispark.

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Die Flucht geht weiter. Wir fahren, wie auch schon vor dem letzten Angriff, wieder quer durch das Land. Als wir spät in der Nacht stoppen und Noah ein Zimmer in einem schäbigen Motel bucht, fragt er mich ob ich ihm mit den Verbänden helfen könnte.

„Klar ", antworte ich und krame den Erste-Hilfe-Kasten aus der Sporttasche. Dann setze ich mich auf den Stuhl, der direkt vor ihm steht.

„Was brauchst d-", ich halte überrascht inne, als ich sehe, wie er sein Shirt hebt und den ersten Verband löst. Allerdings nicht wegen seiner Bauchmuskeln. Gut, ich gebe zu, die haben vielleicht auch eine Rolle gespielt. Doch viel mehr verwundern mich seine Wunden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass man vor weniger als einem Tag noch sämtliche seiner Organe hätte ausmachen und wahrscheinlich sogar bestimmen können. Außerdem haben dunkelrote, seltsam nässende Striemen seinen gesamten Oberkörper übersät, eben überall dort, wo ihn die brennenden Ketten berührt haben.

Mittlerweile sieht man aber nur noch ein paar tiefe Wunden. Manche der Striemen sind sogar schon beinahe verheilt und nur noch als hellrote Linien zu erkennen.

„Okay, wie kann es sein, dass du quasi erstochen wirst, aber zwei oder drei Tage später wahrscheinlich nur eine Narbe bleibt, während meine blauen Flecken und Kratzer an den Armen und Beinen immer noch nicht verheilt sind?!", frage ich empört. Das ist wirklich etwas unfair.

„Tja, soweit ich weiß, hast du nicht noch einen zweiten Körper, der deinen Heilprozess beschleunigt.", antwortet er feixend mit einem Grinsen im Gesicht. "Und jetzt pack bitte ein wenig von dem Iod auf den Wattebausch."

„Schon klar, dieses Werwolfsding macht dich ein bisschen zu Wolverine." Während ich die Watte mit dem stinkenden Sekret bedecke, huschen meine Augen immer wieder zu seinen Wunden. „Aber wie stark?", frage ich und kann meinen leicht bewundernden Tonfall nicht ganz aus meiner Stimme verbannen. „Ich meine, wie doll kann ich dich rein theoretisch verletzen, ohne dass du stirbst? Was wäre, wenn ich erst dich verletze und dann dich in deiner Wolfsform an genau der gleichen Stelle? Kann man dich überhaupt ganz umbringen? Oder bist du ganz wie Wolverine und das einzige was passiert, wenn ich dir in den Kopf schieße, ist, dass du vergisst, dass ich dir in den Kopf geschossen habe?"

Kurz blitzt etwas in seinen Augen auf, verschwindet aber zu schnell, als dass ich identifizieren könnte, was es ist.

„Natürlich kann ich sterben. Nur geht das eben nicht ganz so schnell wie bei einem Menschen. Im Übrigen reicht eine Nadel aus Silber in meiner Fingerspitze aus. Denn mit dem Werwolfsgen geht automatisch eine Allergie gegen Silber einher. Die ist zwar unterschiedlich stark ausgeprägt, manche können Silber kaum im gleichen Raum haben, andere können wiederum ohne Probleme Silberbesteck nutzen, doch für uns alle kann eine Begegnung mit genug Silber tödlich enden. Aber es gibt natürlich auch noch die normalen Wege, um Wölfe umzubringen. Einen Messerstich im Herzen würde ich zum Beispiel nicht überleben. Und Enthauptungen sind auch beliebte und effektive Wege, um einen Werwolf zu erledigen.

Um zu der Frage mit dem Heilungsprozess zu kommen: Wenn du meine beiden Gestalten verletzen würdest, würde es ihn stark verlangsamen und mir extrem starke Kopf- und Phantomschmerzen bereiten, weil ich immer den Schmerz beider Gestalten spüren würde.

Und was deine Frage mit dem Erschießen angeht. Bitte erschieß mich nicht, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dann sterben würde. Und wenn nicht, dann wären die Schmerzen wahrscheinlich so stark, dass ich mir wünschte zu sterben."

Fasziniert hänge ich an seinen Lippen. Als er geendet hat, fallen mir nur zwanzig neue Fragen ein. „Gut, aber sagen wir mal, ich –"

„Bitte nicht noch mehr von diesen Fragen.", unterbricht er mich. „Es macht mir wirklich Angst, dass du so intensiv über meinen Tod nachdenkst."

Hunted MateWhere stories live. Discover now