Diagnose: Hoffnungslos?

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Prolog

Langsam schlage ich die Augen auf und taste alles im Raum nach den üblichen Gesichtspunkten ab, die mich daran erinnern wer ich bin. Wer ich war. Wer ich unglücklicherweise für immer sein werde. Denn ich werde so bleiben. Stecken geblieben. Ich erhasche einen kurzen Blick auf meinen Schreibtisch. Wozu verdammt habe ich noch einen Schreibtisch? Egal, ist jetzt wirklich unwichtig. Mein Blick fährt an der Wand entlang. Die Poster von Hannah Montana und Selena Gomez hängen unverändert mit Reiszwecken befestigt neben meinem Bett. Seit 5 Jahren. Niemand hat sie abgehangen. Niemand hat mich danach gefragt. Niemand. Ich spüre wie langsam mein Zimmer heller wird. Es muss jetzt ziemlich genau 7 Uhr sein. Das heißt ich habe noch eine viertel Stunde bis mein routinierter Tagesablauf beginnt. Gott wie ich Routine hasse.

                                                                                                               

Ich höre das leise Knarren der aufgehenden Tür. Ich weiß was jetzt geschehen wird. Meine Mutter wird herein kommen. Sie wird mich fragen, ob ich gut geschlafen habe. Sie wird nicht auf eine Antwort warten. Dann wird sie die Rollläden öffnen. Sie wird die Sonne oder den Regen bestaunen und sagen, wie erstaunlich das Wetter doch ist. Dann wird sie zu mir kommen, mich langsam aufrichten, damit mir nicht schwindelig wird. Sie wird mich anziehen und mir die Zähne putzen. Dann wird sie meine Haare zu zwei Zöpfen flechten und mich in meinen Rollstuhl setzen. Genau das wird sie tun. Wie jeden Morgen.

„Die Idiotin hat sich schon wieder in die Windeln gemacht.“, meckert die eine Pflegerin. Ja Entschuldigung, dass ich keine Kontrolle mehr über meinen Körper habe. Mich stört es auch, dass ich mit 17 Jahren Windeln tragen muss. Ich würde es auch lieber ändern. „Rede doch nicht so über sie.“, versucht die wesentlich nettere Pflegerin Anna sie zu beschwichtigen. „Ist doch scheiß egal. Die versteht uns doch eh nicht. Die ist dumm, verstehst du?“ Wie ich diese dumme Pflegerin hasse. Sie ist es nicht mal würdig, dass ich ihren Namen kenne. Dabei gehe ich seit nunmehr fünf Jahren in diese Einrichtung. 5 verfluchte Jahre. Ich nenne es schon nicht mehr „Leben“.

„Die Zuckungen sind stärker geworden. Ich sehe keinen Anlass dafür ein EEG zu machen. Das würde uns nur unnötig Zeit rauben!“ Mama sieht ziemlich bedröppelt aus. Was sie wohl sagen würde, wenn ich ihr alles erklären könnte. Ich bin hier, ich lebe, ich denke, ich bin! Sie denken ich verstehe nichts, denke nichts, glaube nichts. Bin ein toter Körper und eine tote Seele. Sie sollen dieses EEG machen. Sofort! Doch der Arzt schüttelt den Kopf. „Edith, es tut mir leid! Es gibt keine Chance mehr.“ Er schüttelt noch einmal den Kopf. Sie sollen mich drehen. Ich will das nicht mit ansehen. Ganz ehrlich, gleich fällt sie ihm wie immer um den Hals. Sie duzen sich doch schon seit Wochen. Und da ich ja diagnostiziert dumm bin denken sie, kriege ich das nicht mit. Ich will das nicht. Das meine Familie bricht. Seit meinem Schlaganfall ist alles ein trister graumelierter Alltag geworden. Meine Schwester Kimi hat sich komplett zurück gezogen. Keiner sieht die Narben auf ihren Armen. Nur ich. Manchmal holt sie mich in ihr Zimmer und erzählt mir alles. Sie ist die einzige, die weiß, dass ich sie höre. Hundert, ach was, tausend Mal hat sie schon versucht die anderen davon zu überzeugen, dass ich sie verstehe. Doch sie sind alle Ignoranten. Diese miesen Idioten.

Härter als sonst bearbeitet meine Physiotherapeutin – auch ihr Name ist mir entfallen, obwohl ich sie schon lange kenne – meine Beinmuskulatur. Sie macht das, damit mein Körper durchblutet wird. Ich erinnere mich an schönere Tage. Tage, an denen ich zum Sport gegangen bin. Ich war Athletin. Im Schulteam. Ich war talentiert. Ich war trainiert. Ich war Hoffnung. Wer hätte jemals ahnen können, dass gerade mein Gehirn so einen großen Schaden nehmen würde?

Diagnose: Hoffnungslos?Where stories live. Discover now