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„Reitunfall. Sie ist vom Pferd gefallen und weil sie sich nicht die Handschuhe schmutzig machen wollte, ist sie auf die Nase geflogen. Oder eine missglückte Schönheitsoperation“, urteilt Kimi. Das Mädchen mit dem massigen Verband an der Nase und einem Pflaster auf der Stirn rührt in ihrem Kaffee, bevor sie aufsteht und ihn ohne zu trinken stehen lässt. Kimi und ich sitzen seit einer Ewigkeit hier und irgendwann hat sie angefangen zu raten, warum die anderen Patienten da sind. Sie hat meinen Stuhl neben ihren geschoben und jetzt starren wir Leute an. Ein dicker Mann mit Bierbauch und Krücken humpelt an uns vorbei. Er stellt sich in die Schlange von Menschen, die etwas kaufen wollen. Ein Eis oder Pommes, einige auch Tee und Knäckebrot. Die haben hier so gut wie alles. Der Mann holt ein zusammengeknülltes Stofftaschentuch aus der Bademanteltasche und putzt sich umständlich und laut die Nase.

„Er ist im Keller von einer Leiter gefallen, weil er niesen musste“, meint Kimi fachmännisch. Wir müssen beide lachen und widmen uns einem kleinen Jungen, der an uns vorbei rennt. Würde er keinen Schlafanzug tragen und eine Krankenschwester hinter ihm her hetzen, würde man ihn nicht als Patienten erkennen.

„Hm...“

Die Schwester greift ihn an der Hüfte und hebt ihn hoch. Vielleicht ist er drei oder vier Jahre alt. Er fängt an zu lachen und dann hustet er schrecklich laut. Erst als er sich übergeben muss, fallen die erschreckende Blässe und die Schatten unter seinen Augen auf.

„Viiiiiirus?“

Kimi will erst klatschen, weil ich das Wort geschafft habe, aber dann hält sie inne und sieht wieder zu dem kleinen Jungen.

„Ich bin froh, dass du gesund wirst“, murmelt sie und ergreift meine Hand. Sie dreht sich zu mir und ich wende meinen Blick von dem Jungen ab, der jetzt weg getragen wird. Eine Putzfrau kommt und wischt alles sauber. Kimi fängt meinen Blick ein.

„Gewonnener Kampf. Nach jahrelangen Zweifeln endlich wahrgenommen. Stärke.“ Tränen steigen ihr in die Augen und ich muss mehrmals blinzeln.

„Nicht weinen“, flüstere ich sicher. Sie tut es trotzdem. Wasser vermischt sich mit Sonne, ihr Lächeln ist Licht. Sie schaut auf ihre Uhr am Handgelenk.

„Du musst hoch“, meint sie und steht auf. Stumm schiebt sie mich auf mein Zimmer und dann warten wir gemeinsam. Schweigend, aber glücklich.

„Super, das hast du toll gemacht. Noch ein Wort und du hast es für heute geschafft, Liebes“, spornt Dr. Haase mich an und ich starre das Tier auf meinem Zettel an. Grün, lang, flach, scharfe Zähne. Krokodil. Ich weiß es, ich weiß es ganz genau.

„Kr...Kr...Kr...“, fange ich an und muss eine Pause machen. Niemals wird irgendjemand verstehen können, wie sich das hier anfühlt. Zu wissen, zu denken zu glauben, aber nicht in der Lage zu sein, Beweise zu liefern. Dass, was man gerne in die Welt hinaus schreien möchte auszusprechen. Es ist viel mehr als ein Pflaster auf dem Mund, viel mehr als zugenähte Lippen. Die Barrikaden sind mit Kraft, körperlicher Kraft überwindbar. Aber das hier? Das ist Wille.

„Krooookrooookrdrrriiiil.“ Gut, war doch gar nicht so schlecht. Mal abgesehen davon, dass ich zwei „R“' s zu viel eingebaut habe. Interssiert doch niemanden.

„Klasse Romy, dann bis morgen.“ Sie schüttelt mir die Hand und dann geht sie. Vorsichtig drehe ich meinen Kopf zum Nachttisch. Kimi hat vorhin ihre Uhr da gelassen. Sie sagte, ich brauche sie mehr als sie. Kimi ist so schlau. Ich möchte auch so intelligent sein. Die Uhr sagt, dass noch viel zu viel Zeit bis zum Abendessen bleibt. Es bleibt die Möglichkeit, fern zu sehen. Ich könnte eine Schwester fragen, ob sie das für mich tut. Sie würde mich mit Gestiken verstehen. Aber das wäre zu einfach. Ziele. Ziele sind alles im Leben. Wenn ich fernsehen will, dann muss ich die Fernbedienung nehmen und auf den roten Knopf drücken. So ist das halt, damit muss ich klarkommen. Mit einem fast gut gezieltem Griff nach der Besagten, stemme ich meinen Arm zurück in den Schoß und senke den Blick. Okay, der rote Knopf ist grau. Ein weißer kleiner Kreis mit einem Strich oben. Du musst ihn nur drücken Romy, du musst nur deinen Finger rauf legen. Meine Hand zittert. Ich will den Zeigefinger steuern, aber mein Körper bleibt stumm. Er kann mir noch nicht gehorchen. Zu neu ist für ihn der Zustand eine Wahl zu haben. Möglichkeiten. Ich mag eh keine Nachmittagsshows. Die sind langweilig. Außerdem ist immer noch SuperRTL eingeschaltet und ich weiß nicht, ob ich es schaffe auf eine bestimmte Ziffer zu drücken. Dann halt nicht.

Es klopft an die Tür und zum zweiten Mal an diesem Tag kommt sie, Lea. Sie lächelt mich an und stemmt die Hände in die Hüften. Das scheint sie oft zu machen, muss wohl eine Macke sein. Oder ein Erkennungszeichen. Lea die Starke, Lea die Hüftstemmerin. Noch ein Ziel: Lea sagen, dass sie eine starke Hüftstemmerin ist. Wenn ich schreiben kann, muss ich alle meine Ziele mal zusammen tragen. Oder ich bitte Kimi sie für mich zu vermerken. Das würde schneller gehen. Lea sieht müde aus, wer weiß, wie lange sie schon am Stück arbeitet. Auch die Stärkste der Stärksten wird mal schläfrig, das ist ja nur menschlich. Und Lea verzeihe ich alles.

„Was hälst du davon?“ Erwischt.

„Hast mir wohl nicht zugehört, was? Ich hab dich gefragt, ob ich dich duschen darf“, wiederholt sie ihre Frage und ich werde aus mehreren Gründen rot.

Erstens – ich habe sie angehimmelt, während sie mit mir gesprochen hat.

Zweitens – sie möchte mich duschen.

Ich bin dünn, sehr dünn. Eklig dünn. Ob sie das sehen möchte? Das möchte ich ihr nicht antun. Wenn ich schön bin und stark und viel gegessen habe, dann kann sie mich gerne nackt sehen. Kein Problem. Aber jetzt, jetzt bin ich noch nicht hübsch genug für eine Göttin wie sie. Mein Gewissen jedoch sagt mir, dass ich irgendwann duschen muss. Ich meine, jeder muss das mal machen. Auch ich. Und so nicke ich sehr schwach und sie lächelt. Es ist wie, als sie mich auf die Toilette gebracht hat. Es nimmt mir die Angst. Sie schlägt meine Decke zurück und fängt an mich zu entkleiden.

„Willst du das anlassen? Deine Mutter kommt doch heute bestimmt nochmal vorbei. Wenn du möchtest, kann sie das auch machen“, bietet sie an, aber ich schüttele hektisch den Kopf. Nicht meine Mutter, nein. Bitte, bitte nicht. Sie ist zu wissend, zu erfahren, zu mechanisch. Da ist es mir sogar lieber, dass mich eine wildfremde und bildschöne Frau duscht, als sie. Das hört sich hart an, ist es bestimmt auch, aber ich kann es nicht leugnen. Ich habe nur einen Slip drunter, keinen BH. Meine Brüste sind bestimmt klein und mickrig. Das waren sie schon immer. Lea lässt meine Unterhose an und setzt mich in den Rollstuhl. Immer wieder fragt sie mich, ob alles in Ordnung ist. Kein einziges Mal traue ich mich auszusprechen, was ich denke. Kein einziges Mal bin ich im Stande dazu. Kein einziges Mal kann ich schreien „Ich bin eine hässliche Missgeburt. Schau mich nicht an, fass mich nicht an! Du könntest infiziert werden von meiner Unschönheit. Bitte Lea, bitte, tu dir das nicht an“. Die Worte tanzen in meinem Kopf und rasseln gegen meinen Schädel. Im Bad setzt sie mich auf eine Art Stuhl in der Dusche und beginnt vorsichtig warmes Wasser über mich laufen zu lassen. Perlen der Tiefe, sie rieseln über meine Arme, meine Beine. Mit einem Waschlappen reinigt sie meine Hände, meinen Bauch, meinen Rücken. Sie sagt mir immer wieder, dass ich keine Angst haben brauche. Ich will ihr immer wieder sagen, dass ich trotzdem welche habe. Vielleicht weiß sie das ja, sie ist doch Lea die Starke. Lea die Hüftstemmerin. Bestimmt weiß sie das. Sie beeilt sich, ich bin stolz auf sie. Obwohl jede Berührung ihrer Hände auf meiner Haut ein unbehagliches Gefühl auslöst, halte ich durch. Es ist nicht so, dass ich mich vor ihr ekele oder dass ich sie nicht leiden kann. Ich bin nur einfach nicht gut genug für sie. Während sie mich abtrocknet lacht sie über mein kurzes Haar.

„Du siehst dadurch so wild aus, Romy“, meint sie und fährt mir durch die kurzen Strähnen. Und so schnell wie das alles begonnen hat, so schnell geht es vorbei. Erst im Bett kann ich wieder klar denken. Angezogen, zugedeckt, verhüllt.

„Du bist so schön.“

Diagnose: Hoffnungslos?Where stories live. Discover now