Die Schüler

245 46 11
                                    

Es war still in der Klasse. So still, wie noch nie zuvor. Man könnte eine Stecknadel fallen hören, würde irgendwer sich rühren und eine fallen lassen. Das einzige, was noch in der Luft lag, war der Nachhall der Worte des Direktors.

Er war kurz nach Unterrichtsbeginn in den Klassenraum gekommen, mit diesem seltsamen Gesichtsausdruck. Das hatte gereicht, um die meisten verstummen zu lassen.

„Meine lieben Schüler", hatte er dann begonnen und ein leichtes Zittern lag in seiner autoritären Stimme. „Ihr habt sicherlich schon mitbekommen, dass euer Mitschüler David heute nicht an seinem Platz sitzt."

„Die Schwuchtel schwänzt bestimmt wieder", gröhlte John dazwischen. Einige kicherten verhalten, aber die meisten schwiegen einfach. Der Direktor bedachte John mit einem strafenden Blick, ehe er fortfuhr.

„David wird diese Klasse auch nicht mehr besuchen. Wir bedauern es alle sehr, aber er hat sich dazu entschieden, seinem Leben ein Ende zu setzen. Wir konnten noch keinen Kontakt zu Davids Mutter herstellen, daher wissen wir nicht, ob und wann es eine Beerdigung geben wird. Falls Davids Freunde oder ein anderer Schüler über dieses Ereignis sprechen möchten, steht euch in Raum 212 ein Trauerberater zur Verfügung. Ihr könnt euch auch an eure Vertrauenslehrer wenden, wenn ihr euch bei ihnen besser aufgehoben fühlt."

Freunde? Welche Freunde? Lars und Nadja saßen beide in diesem Kurs. Zufall, oder Schicksal? Sie blickten einander für einen kurzen Moment an, doch dann ließen sie ihre Blicke schnell fallen. Allgemeine Stille legte sich über den Raum. Wie auf einem Friedhof. Der Direktor sagte noch etwas, verabschiedete sich, aber niemand hörte mehr wirklich zu. Wie ein Felsrutsch schlug diese Nachricht in die Schüler ein und hinterließ nichts als betretenes Schweigen. Vielleicht brauchten sie erst Zeit um zu realisieren, was geschehen war. Um zu realisieren, dass David nie mehr zurückkommen würde. Dass er nie mehr irgendwo hin gehen würde. Vielleicht wussten sie nicht, was sie fühlten sollten.

Trauer oder Schuld? Mitleid? Betroffenheit? Eine Weile schwiegen alle vor sich hin. Auch die Lehrerin, die vorne auf dem Pult saß, schaute betroffen auf die Spitzen ihrer braunen Schuhe mit dem winzigen Absatz.

Irgendwann zerschnitt eine Bewegung die Luft. Man konnte sie förmlich hören. Alle Blicke schnellten hoch und entdeckten den in die Luft gereckten Arm. Es war ein Mädchen, das auf seiner Lippe herumkaute und dabei den ganzen rosa Lippenstift verwischte. Etwas irritiert nahm die Lehrerin sie dran.

„Können wir vielleicht darüber reden? Immerhin war David in unserer Klasse..." Alle starrten sie an und man konnte ihr ansehen, wie unwohl sie sich unter den Blicken fühlte.

„Sicher", stammelte die Lehrerin und stand auf. Sie schien mit der Situation überfordert zu sein, nahm aber tapfer den nächsten Schüler dran, der sich meldete. Ein weiteres Mädchen, eine Freundin von Nadja, die immer mit ihr über David getuschelt hatte.

„Ich kann nicht begreifen, was ihn dazu getrieben hat. Wieso hat er sich das Leben genommen? Er hatte doch noch so viel vor sich." Lars meldete sich und die Lehrerin nahm ihn sofort dran.

„Kannst du nicht?", fragte er und sah Nadjas Freundin direkt an. Sein Blick schweifte kurz zu Nadja. „Ich kann es verstehen. Wir waren nicht sonderlich nett zu David, seit er sich geoutet hat. Er hatte niemanden mehr." John unterbrach ihn plötzlich. Sein Tonfall war aggressiv.

„Das war doch nur Spaß! Wir haben ihn doch nur ein bisschen geärgert, nichts weiter. Kein Grund, so zu übertreiben."

Zum ersten Mal erntete John kein verhaltenes Lachen. Keine Zustimmung. Nichts. Lars starrte auf seine Tischplatte. Schluckte, ballte die Hände zu Fäusten und knetete sie, sodass die Fingerknöchel weiß anliefen.

Im AbgrundWhere stories live. Discover now