~Dreißig~

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Er wusste nicht, wieso er hier noch immer herumgeisterte. Auf fremden, vielleicht sogar feindlichen Territorium. Doch sie hier allein zu lassen, mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass ihr eigener Vater sie an den Meistbietenden vergeben wollte, brachte Luciano zur Weißglut. Sollte er sie zur Frau nehmen? Würde er sich das selbst zutrauen?

Es war schon lange her, dass er so für jemanden fühlte und den Gefühlen zu folgen, konnte einen rasch in den Abgrund stürzen. Das musste er einst schmerzlich erfahren, denn denjenigen zu verlieren, ist mit keinem körperlichen Schmerz vergleichbar. Oder doch? Vielleicht wenn man sich vorstellte, dass einem das Herz herausgerissen wird. Nur zehnmal so schlimm, ergänzte er und schmunzelte schief.

Vom Vordach der Veranda tropfte der Regen herab. An manchen Stellen bildeten sich kleine Pfützen, die im seichten Licht pechschwarz und unsagbar tief wirkten. In einer trieb ein helles Blütenblatt auf der Oberfläche, das zerbrechlich und trotzdem so schwerelos schien. Luciano legte den Kopf in den Nacken, genoss die kühle Brise und versuchte seine Migräne zu vergessen.

Plötzlich drang ein Schrei zu ihm durch. Nein, es war kein einzelner Hilfeschrei, sondern eher eine Reihe von Geräuschen, die diesem ähnelten. Eine Frau musste in Schwierigkeiten sein und wenn er an eine Frau dachte, fiel ihm in dieser Villa nur eine ein.

Gerade als er zurück ins Haus wollte, sprang ihm Felicita bereits in die Arme. Atemlos und mit verheultem Gesicht packte sie ihn. Zusammen wirbelten sie herum, sodass sie ungehindert in den Garten hätte rennen können, aber sie hing wie eine Klette an seinem Jackett. Einige von Giovannis Untergebenen kamen ihr hinterher und stoppten bei seinem Anblick.

„Was ist hier bitteschön los?", erkundigte er sich mit hochgezogener Augenbraue. Felicita zitterte und weinte hustend weiter. „Verschwindet! Auf der Stelle."

Sie zögerten. Luciano verstand, dass er sich innerhalb der Del Monte Familie nicht allzu viel erlauben konnte, aber er würde auch nicht tatenlos darauf warten, dass sie diesem Mädchen etwas antuen. Letztlich verschwanden sie zähneknirschend und ohne Widerworte. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie mit Verstärkung oder Giovanni persönlich vor ihm standen?

„D-Danke", stammelte sie und löste sich mit hängenden Schultern von ihm.

„Wieso weinst du, mia Farfalla?"

„Sie ... sie haben Gian."

Perplex machte Luciano einen Schritt rückwärts. Sie log nicht, dass sah er ihr auf den ersten Blick an. Dafür schaute sie ihn viel zu durchdringen und mit einer Ernsthaftigkeit an, die er bei einer so jungen Frau niemals erwartet hätte. Außerdem entdeckte er Blut an ihrer Kleidung. Nicht ihres, wie er sich selbst versichern musste.

„Wie meinst du das? Ich dachte, sie hätten ihn in der Kanalisation zurückgelassen."

„Nein, haben sie nicht", sie erschauderte sichtlich am ganzen Körper. Schnell schlang sie die Arme um sich, als ob sie andernfalls auseinander brechen würde. „Er ist in einem Labor im Keller. Dort helfen sie ihm nicht, sondern machen alles nur noch schlimmer. Ich hatte so sehr gehofft, dass wir draußen einen Arzt finden, der ihn rettet, aber jetzt verliert er völlig den Verstand. Er darf nicht zu so einem Monster werden."

Luciano schwieg, obgleich er ihr eine Hilfe sein könnte und tief in seinem Inneren wahrscheinlich auch wollte. Allerdings gab es ein paar Bedingungen, die er an sie stellen müsste, damit sie beide auf der sicheren Seite wären. Und er seine selbstsüchtige Seite befriedigen konnte.

Blank DreamWhere stories live. Discover now