Kapitel 1: Schauergeschichten

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»Und als ich auf meinem Weg zur Küche an der Bibliothek vorbei kam, hörte ich ein Flüstern. Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage, als zitiere jemand Shakespeares Hamlet! Da bin ich natürlich etwas neugierig geworden, es war ja spät nachts. Aber als ich die Tür öffnete, war da nichts und niemand! Ich sage dir, Adele, das war wirklich unheimlich«, schloss Emily ihren Bericht und stellte das letzte abgewaschene Glas zur Seite.
Adele griff es sich, um es abzutrocknen. »Ach was«, sagte sie bloß.
»Glaubst du vielleicht, ich lüge? « Emily klang beleidigt.
»Ich glaube, du hast zu viel Phantasie, meine Liebe. Das kommt von den Groschenromanen, die du immer liest. « Obwohl Adele noch recht neu im Haus der Crawfords war, war ihr Emilys Vorliebe für diese Trivialliteratur, insbesondere Schauergeschichten, bereits aufgefallen. »Das was du da gehört hast, war sicher bloß der Wind! «
Das Herrenhaus der Crawfords war alt und bot dem Wind viele Gelegenheiten, um die Ecken zu pfeifen und schaurige Geräusche zu erzeugen. Manchmal klang es wirklich wie Worte.
»Darauf würde ich nicht wetten«, schaltete sich nun auch Evangeline, das dritte Hausmädchen des Hauses Crawford in den Klatsch und Tratsch ihrer Kolleginnen ein. »Ich habe spät nachts auch schon Stimmen und seltsame Geräusche aus der Bibliothek gehört. Glaub mir, seit Mister Crawfords Tod gehen hier merkwürdige Dinge vor sich...«
Das überraschte Adele. Im Gegensatz zu der überdrehten, kindlichen Emily, wirkte Evangeline auf Adele immer sehr bodenständig und erwachsen. Kaum zu fassen, dass sie solch einen Unsinn glaubte. Sie konnte nicht anders, als den Kopf zu schütteln.
»Wenn du's nicht glaubst, kannst du Madam Crawford ja den Tee in die Bibliothek bringen«, meinte Emily grinsend und deutete auf den Servierwagen mit dem Tee und dem Gebäck, den Evangeline vorbereitet hatte. »Oder traust du dich nicht? «
Adele hängte ihr Tuch an den Haken und stellte das letzte Glas in den Schrank. »Meinetwegen. «
Als ob ihr diese kindischen Schauermärchen Angst machen könnten. Immerhin lebten sie in einer Zeit des Fortschritts, in der Logik und Wissenschaft jeden Tag über Aberglauben und Furcht triumphierten. Wenn Emily eine völlig unnötige und unsinnige Mutprobe wollte, bitteschön, an ihr sollte es nicht scheitern.

Adele atmete tief ein, als sie nach höflichem Anklopfen die Bibliothek betrat. Der Geruch nach gegerbtem Leder und altem Papier und Pergament drang ihr in die Nase, gemischt mit dem Duft aus der Teekanne, die sie auf dem Servierwagen vor sich herschob und dem harzigen Parfüm der Holzscheite, die im großen Kamin an der Stirnseite des Raumes lagen und als lustiges Feuer vor sich hin prasselten.
Durch die Buntglasscheiben fiel das letzte rot-goldene Abendlicht und malte bunte Flecken auf die Eichendielen, beleuchtete das Jugendportrait der Witwe Crawford und ihres Gatten, welches über dem Kamin hing.
Beinahe hätte das Hausmädchen laut aufgelacht.
Nein, die Bibliothek war auch nach Emilys Schauergeschichten alles andere als beängstigend. Ganz im Gegenteil, diese ganze Atmosphäre war äußerst beruhigend und ließ Adele an einen Abend voller guter, ernsthafter Lektüre denken. Das einzig geisterhafte hier waren die langen Schatten, welche die Möbel auf Boden und Wände warfen.
»Ich bringe den Tee«, erklärte Adele leise, wie es sich gehörte, als sie an den großen, ledernen Ohrensessel trat, in den sich die Hausherrin zu ihrer allabendlichen Lektüre und der letzten Tasse Tee des Tages niedergelassen hatte.
Madam Crawford selbst war eine Frau von kleinem Wuchs und hagerer Gestalt. Das Ölportrait über dem Kamin verriet, dass sie einmal hübsch gewesen war, doch das Alter hatte ihr kastanienbraunes Haar ergrauen und die grün-grauen Augen trüb werden lassen.
Dennoch strahlte Madam Crawford eine Würde aus, die derjenigen der Königin von England in nichts nachzustehen schien.
»Danke Adele«, sagte sie und sah das Mädchen einen Moment prüfend durch ihre kleinen, runden Brillengläser an.
Adele versuchte währenddessen, sich auf das Eingießen des Tees zu konzentrieren. Sie fühlte sich unbehaglich unter dem Blick der alten Dame.
»Sei doch so gut und zieh noch kurz das Grammophon auf«, wies Madam Crawford Adele an, als sie die Teetasse entgegen nahm.
Das Mädchen nickte und drehte an der kleinen Kurbel um das Federwerk aufzuziehen. Einen Moment später ertönte rauschend die Stimme einer jungen Sopranistin, welche davon sang, sie habe geträumt in marmornen Hallen zu wohnen; eins von Madam Crawfords Lieblingsliedern.
»Ach ja...«, seufzte die Witwe versonnen, »...die Oper...« Sie hielt inne und richtete sich etwas auf, als habe sie soeben eine Entscheidung von großer Wichtigkeit getroffen. »Ich hörte, im Sheldonian spielen sie Mozarts Zauberflöte. Sag Evangeline, sie soll mir morgen zwei Karten reservieren lassen; Richard kann etwas Kultur vertragen.« Sie hielt erneut inne. »Ich hoffe, sein Zimmer ist bereit?«
»Natürlich«, antwortete Adele während sie die Öllampe auf dem Beistelltisch entzündete.
Selbstverständlich war alles für den Besuch von Madam Crawfords Enkel Richard bereit. Emily hatte das Zimmer mit solch einem Feuereifer hergerichtet, dass der junge Mann bereits am Mittag hätte einziehen können.
»Sehr gut. Ihr könnt dann auch zu Bett gehen.« Die Witwe schien zufrieden.
»Sehr wohl, Madam.«
So leise wie möglich verließ Adele die Bibliothek.
Madam Crawford blieb allein mit der Erinnerung an ihren lieben, alten Mortimer zurück. Ganz klar schien es ihr makaber, hier zu sitzen und Tee zu trinken, schließlich war ihr Gatte nicht nur in diesem Raum sondern auch exakt in diesem Sessel aus dem Leben geschieden. Doch andererseits war es auch genau dieser abgewetzte Ledersessel, in dem sie sich Mortimer am nächsten fühlte.
Seufzend lehnte sie sich zurück.



Von der alten Dame und anderen GeschichtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt