La fin de Monsieur Jiminy

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Es ist ein heller Dezembermorgen. Ruhig rieseln riesige Schneeflocken auf die Köpfe der Menschen vor der hellen Kapelle. Es ist irgendwann zwischen Januar und März. Irgendwann zwischen Winter und Frühling. 

Das Alte ist vergangen und das Neue ist im Stande zu erblühen. Eine Ära, eine ganze Zeit scheint vorbei zu sein. Endlich? Das Leben ist es, aber auch die Erfüllung?

Es ist kalt und die Menschen frieren. Langsam begeben sie sich alle in die Kapelle auf dem kleinen Dorf, wo schon so viele von ihnen beerdigt worden sind. 

Ein Sarg ist aufgebahrt, keine Urne. Selbstverständlich ist der Sarg komplett in schwarz gehüllt. Die Eltern gaben ihm den dunkelsten Sarg, den man auf dem Markt nur finden konnte. 

Er liegt mit einem Lächeln in diesen seidigen Tüchern. Seine Hände halten einen Blumenstrauß, natürlich sind es rote Dahlien. Es sind die Blumen, die so eine Fülle für ihn bedeutet haben. 

Der Saal wurde seit sieben Uhr am Morgen eingeheizt, in der Kapelle ist es ganz warm. Als sich die Menschen auf die Bänke setzen, knarren und quietschen diese, natürlich. 

Ob die Gäste wussten, dass es passieren würde? Hatten sie die Texte verstanden, die er sein Leben lang schrieb? Er verstand sich immer mehr wie ein Code, ein Rätsel welches jeder einzelne zu lösen hatte. Jeder für sich, nicht als Gruppe. Jeder hatte seine andere Seite kennenzulernen.

Es gab so viele Informationen. So viel Tiefe, so viel Bedeutung in den Schriften die nur für eine bestimmte Zeit verweilen würden. Lasen sie aus den kahlen Tritten, welche er in die Welt setzte? Konnten sie Jeremy verstehen und sehen, welchen Pyjama er sein Leben lang trug? Hatten sie die Bedeutung der Opernsängerin in Budapest verstanden? Es sollte sich heute zeigen. Mit jedem Wort und mit jeder Verhaltensweise. 

Natürlich war der, der im Sarg lag, komplett in schwarz gekleidet. Er trug einen schwarzen Anzug, ein schwarzes Hemd bedeckte seinen Körper. 

Wussten sie überhaupt wer dort lag? Kannten sie ihn oder waren sie geblendet von den Vorurteilen und den von ihnen gebildeten Gedanken? Wer war dieser Jim Jiminy?

War er der kleine Junge, der damals im Kindergarten immer gerne Prinzessinenkleider trug? Oder der, der bei Dunkelheit Angst hatte den Hang hinunterzulaufen? War Jim der, der nie mehr baden gehen wollte oder war er der, der immer ein Lächeln auf seinen Lippen trug? Und ich spreche hier von immer, - wirklich immer. 

Vielleicht würde man ihn endlich als einen starken Jungen sehen, der eher die Kraft seines Geistes, als die seiner Muskeln benutzte. Aber er hatte ja auch keine andere Wahl - er hatte keine andere Wahl. 

Im Schall der Unendlichkeit vergeht jedes kleine Wort von dem Mädchen, welches zu erst sprechen wollte. Tränen überlaufen ihr Gesicht, sie streift ihre Haare zurück. Es geht ihr so unglaublich schlecht, sie denkt, niemand würde es verstehen.

Er hatte es ihr doch versprochen. Wie konnte er ihr nur sowas antun? 

Aus der Orgel erklingt eine schöne Musik. Sie ist fröhlich und keineswegs in Moll gehalten. Eine gute Entscheidung des Organisators.

Was werden sie jetzt ohne ihn machen? Werden sie weiterleben oder im Grau der Tage verschwinden? Wird alles so bleiben, wie es war oder wird er nur eine Rolle für sie gespielt haben?

Ich glaube die Lösung besteht alleine darin, dass sie sich klar werden müssen, was er für sie bedeutet hat. Wer war Jim Jiminy?

Ein unbeachtetes Blatt auf dem Boden der Fülle? Niemand weiß und jeder ist erfahren. 

Einige Menschen weinen, einige nicht. Jim hätte nicht geweint. Er wäre starr gewesen, seine Hände lägen auf seinem Schoß, er hätte sie gefaltet und nach unten gesehen. 

»Auf Wiedersehen Jim«, ertönt es, als einer der Anwesenden plötzlich aufspringt und den Saal verlässt. 


Gut gemacht.

»Ist das die Erfüllung unseres Seins?«, fängt nun ein anderer an. 

»Und wir bekamen nur ein leeres Paket«, spricht der dritte. 

Die vierte flüstert für sich selbst: »Es kommt darauf an, was wir in dieses Paket legen, nicht, wie wir es bekommen.« Zuvor hatte sie noch ganz wütend zu denen geschaut, die die Kapelle verließen.

Es war nicht die Kapelle in Camaret-sur-Mer, es war nicht die Kapelle von Schenkenberg, in welcher sich das Wunder zwischen Januar und März abspielte. Es war kein Gestern und kein Morgen. Es zählte nur der Moment, der sie alle für immer miteinander verbinden sollte. 

Die Menschen verließen das gottesfürchtige Haus und schenkten sich ein Lächeln, sie zogen die schwarzen Kleider aus und entwanden sich von den Tüchern. Er hatte sie zusammengeführt, er wollte es so, und so war es vollkommen. Sie lernten voneinander, nicht einseitig. 

Jeder kannte eine andere Seite von Jim. Sie kannten den fröhlichen, den traurigen, den hoffnungsvollen, den besorgten und den organisierten. Sie kannten fast jede kleinste Facette - doch nur durch die Zusammenführung erkannten sie das gesamte Konstrukt, das gesamte Monument desjenigen, welcher vor ihren Augen verstarb.

Er hatte sich gestürzt, von einem Haus. Er ließ die Tasse auf dem Fensterbrett stehen, es war nur ein Sprung. War es ein Sprung in das unendliche Glück? Er wusste es nicht, er begab sich in komplett neue Gebiete. Er hatte den Mut seine Welt zu verlassen, er hatte die Wahl.

Zu bleiben oder zu gehen?

Oh Jim.

War es die richtige Entscheidung? War es in Ordnung, dass er an sich dachte? Er musste an sich denken, wenn er „Er-Selbst" sein wollte. Jeder hatte sein Glück zu finden, jeder einzelne von ihnen. Und vielleicht waren sie schon allesamt glücklich, aber er war es nicht. 

Er hätte es niemals werden können.

Er hat sich doch nur selbst Vorwürfe gemacht. Er konnte doch gar nicht begreifen, was die „Welt" eigentlich war. Er hatte doch nicht einmal das Recht Spaß zu haben und empfinden zu dürfen. Letzteres war aber nur seine Sicht. 

Es war Jim und sein Schatten, die diese Welt verließen. Vielleicht blieb der Schatten auch, vielleicht nahm der Schatten jeden ein, den er einst das Herz berührte. 

Und alle gingen, zusammen Hand in Hand. Sie verabschiedeten sich nicht von ihm, es hätte ihm nichts gebracht. Sie waren glücklich. Nicht weil er ging, sondern weil sie ihr Glück zu schätzen wussten. 

Sie waren glücklich, weil sie sich gefunden hatten. Sie waren glücklich, weil sie ihn verstanden. 

Der Sarg wurde in die Erde eingelassen und man warf nur Rosen hinterher, schwarze Rosen auf den schwarzen Sarg, in welchem schwarze Kleider einen von Licht durchfluteten Menschen umhüllten. 

So viele Schichten, die ihn beschützen. Aber keine, die ihn rettete.

Es war schwierig für ihn zu verstehen, dass er nichts dafür konnte. Dass er wohl immer etwas anderes bleiben würde und er nie mit einer Frau in der Liebe schwelgen konnte, wie er es sich erhoffte. 

Aber so ist Jim.

So war er.

So ist Jim Jiminy gewesen.

Bis er letztendlich doch für immer verschwand. 

*

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