Das Mädchen und die Taube

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Eingesperrt in einem ewigen Gefängnis aus meterhohen Wänden, die schemenhaft fast einer Stadt gleichen, lag ihr Leben. Vereinsamt und verlassen war sie gefangen und sah nur ab und zu eine kleine, weiße Taube. Sie möchte den schneefarbenden Vogel, der sie immer wieder besuchen kaum. Eines Tages war sie so voller Trauer und Wut, dass sie nur noch dem Vogel folgen wollte. Da sah sie ihn wieder am Himmel fliegen und rannt ihm nach. Rannte so schnell sie konnte. Immer den grauen, leblosen Wänden entgegen, und als sie den Schmerz erwartete, der sie bei dem Aufprall hätte treffen mussen, schloss sie die Augen.
Sie erschuf sich eine Welt, in der dieser Wall nicht mehr existierte. In der die Wiesen frei und grün waren. In der alle grauen Wände gefallen waren. In der sie vermochte zu leben. Und als sie die Augen aufschlug, stand sie zu ihrer Überraschung in ihrem Traum.
Der Duft der frischen Luft und der Erde schossen ihr in die Nase. Sie dachte an die Zeit zurück, wo dies alles noch Alltag für sie war und sie ließ sich in ihre Empfindungen und Erinnerungen fallen. Sie kannte keinen schöneren Platz auf der ganzen Welt, als diesen hier, und so tanzte und drehte sie sich, wie die Blätter im Wind. Ihre Haare schwangen mit jeder Bewegung mit und umschmeichelten ihr liebliches Gesicht, das nun wieder Farbe annahm. Das Grau wich aus ihrem Leben und sie war glücklich.
Da entdeckte sie die Taube wieder. Aus lauter Dankbarkeit, denn sie war der festen Überzeugung, dass sie dieses Wunder dem Vogel zu verdanken hatte, rief sie dem Tier mit lauter, kräftiger Stimme zu und wank mit ihren dürren Armen. Dieses jedoch machte kehrt und flog davon. Sie wollte natürlich wissen, wohin er sie führen möge und so folgte sie ihm geschwind. Ihre Augen waren weit aufgerissen, so sehr faszinierte sie die Welt um sie herum immer noch. Da waren Bäume und die schönsten Blumen waren an jeder Stelle zu finden. Wenn sie die Zeit gehabt hätte, hätte sie einige von ihnen pflücken können, doch nun musste sie ihrem Freund, der Taube, folgen.
Sie rannte und rannte immer schneller und als sie sich in Sicherheit wiegte, schloss sie die Augen, um für einen kurzen Moment die herrliche Luft noch einmal genießen zu können. Plötzlich spürte sie keinen Boden mehr unter ihren Füßen. Ein kleiner Aufschrei entfuhr ihr, als sie die Schlucht hinunter fiel. Zappelnd und weinend war ihr letzter Blick nach oben gerichtet, wo die Taube über der Schlucht kreiste. Sie wurde verraten.
Der Fall dauerte nicht lang, denn als sie schon den Boden unter sich sah und im Begriff war aufzuschlagen, erwacht sie keuchend aus diesem Traum. Sie saß vor einer der grauen, leblosen Wände. Anscheinend hatte sie sich den Kopf gestoßen.
„Was? Es war ein Traum?", fragte sie sich bestürzt selbst, „Ein Alptraum?" Ihre Beine winkelte sie an und begann zu weinen. „Warum nur ein Traum?"
Die Taube kreiste über ihr und setzte sich letztendlich auf die Mauer. Ihr Gurren durchdrang den gesamten Raum. Die Taube war frei. Sie hingegen nicht. Das hatte sie vergessen. Leise und immer noch schluchzend lehnte sie sich an die Grenze ihres Gefängnis. Wenn sie die Kraft gehabt hätte, hätte sie diese Wände mit bloßen Händen niedergerissen.
„Liebst du mich eigentlich, Taube?", fragte sie das gefiederte Tier. Zur Antwort bekam sie ein Gurren. „Wirst du immer bei mir bleiben?" Ein Gurren folgte. „Warum kommst du dann wieder?" Diesmal ohne Gurren als Antwort. Nur das flatternde Geräusch einer wegfliegenden Taube. Ernüchtert sank sie wieder in sich zusammen und begann zu weinen. Hatte sie einen Fehler gemacht? Warum wandte sich nun auch ihr letzter Freund von ihr ab? Was hatte sie getan, dass sich alle ihrer entzogen? War sie nichts wert? Deswegen in diesem Loch gefangen?
Sie begann zu singen:"Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald. Es war so finster und auch so bitter kalt. Sie würden niemals wiederkehr'n. Was sollten sie nur tun? Vielleicht werd'n sie sich verlier'n. Auf ewig sich ausruh'n."
Ihr Blick schweifte leer über den Platz. Kein anderes Lebewesen. Von aller Welt verlassen. Nicht einmal sich selbst erkannte sie.

ZwischentexteWhere stories live. Discover now