Trauern danach

621 83 5
                                    


Bitte, Mama.

Ich weiß, du hast dir das anders vorgestellt. Doch ich hätte auch nicht gerne an deinem Grab gestanden, weißt du? Was ist schlimmer? Das eigene Kind zu verlieren oder den einzigen Menschen, der das ganze Leben da gewesen ist, den Menschen, dem man alles zu verdanken und alles zu verschulden hat? Den Menschen mit der meisten Verantwortung, den Menschen, dessen Anwesenheit so gut wie alle Erinnerungen schmückt?

Du wirst mich doch noch haben, Mama. Du wirst all die Fotos ansehen und dich erinnern, du wirst all die Briefe lesen, die ich dir geschickt habe, und du kannst dir die Worte ausschneiden, jedes einzelne, und neue Sätze basteln, Sätze, die ich noch nie gesagt habe, Sätze, die du nie aus meinem Mund gehört hast, du kannst meine versagende Stimme aufnehmen und auch diese Fragmente neu zusammensetzen, ich werde nie ganz aus der Welt verschwinden, Mama.

Mama, ich habe Angst. Ja, das habe ich. Ich habe Angst davor, dich nie wiederzusehen, ja, aber ich habe keine Angst davor, dass du mich nie wiedersiehst, weil das nie passieren wird. Du hast das Privileg des Überlebens. Ich nicht. Mama, ich will dich ja nicht verlassen, wirklich nicht, aber ich schaffe es nicht mehr, ich habe nicht mehr die Kraft, die Augen offen zu halten, und ich weiß, wie sehr du meine Augen geliebt hast. Sie haben dich an meinen Vater erinnert.

Mama, kannst du mich halten? Kannst du mich halten, wenn ich sterbe? Das Letzte, was ich fühlen will, ist dein Herzschlag, ich will nicht, dass du mich jemals loslässt. Ich hatte immer Angst, dass er irgendwann weg wäre. Aber jetzt... jetzt wird meiner nicht mehr da sein. Bald schon.

Ich werde dich vermissen, Mama. Egal, wo ich hingehe, ich werde dir einen Platz freilassen. Aber bitte, bitte lass dir noch Zeit. Genieße das Leben, das ich nicht haben konnte. Tu all die Dinge, für die du wegen mir keine Zeit hattest. Sieh dir all diese Länder an, von denen du Fotos im Wohnzimmer hängen hast. Ich verspreche dir, Mama, ich werde da sein, wenn du es willst. Du musst es nur zulassen. Aber bitte verkriech dich nicht. Trauer nicht zu lange. Du verdienst etwas besseres, lass mich das Trauern erledigen, glaub mir, ich werde genug Gelegenheit dazu haben, wenn ich erst mal tot bin.

Tschüss, MamaHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin