Kapitel 1 - "Eine sichere Nacht"

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"Eine sichere Nacht." Flüstere ich und umarme meinen besten Freund.

Ich löse mich von ihm und schaue bedrückt zu Boden. "Es ist alles gut, Joanna. Wir werden es beide schaffen, so wie jedes Jahr." Ich nicke und schaue Ethan an.

"Ich habe Angst."

"Ich auch. Und jetzt geh nach Hause, sonst ist es vielleicht zu spät." Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn und läuft von dem Schulgelände.

Ich atme tief durch und laufe dann auch los.

Mir wird nichts passieren, so wie jedes Jahr. Die Purge-Nacht macht mir zu schaffen. Und das jedes verdammte Jahr.

Im Jahr 2022 regieren in den Vereinigten Staaten die neuen Gründerväter Amerikas. Um die Kriminalitätsraten und Arbeitslosenzahlen niedrig zu halten, führt die Regierung - diesbezüglich erfolgreich - eine alljährliche „Purge-Nacht" durch, in der alle Verbrechen inklusive Mord legal sind. Von 19:00 Uhr abends bis 7:00 Uhr des Folgetages sind die Notrufsysteme von Polizei, Feuerwehr und Krankenhäusern nicht erreichbar.

Schrecklich.

Ich versuche, wie jedes Jahr, mit meinem Vater und meinem kleinen Bruder sicher um die Nacht zu kommen, was bis jetzt eigentlich immer gut funktioniert hat.

Trotzdem ist die Angst zu groß, um lachen zu können.

Vor 5 Jahren, als ich 11 war, ist Mum gestorben. Sie wollte noch kurz einkaufen, als die Sirene ertönte. Sie hat es nicht mehr geschafft.

Seitdem verstecken Dad, mein Bruder Luke, welcher erst 11 ist, und ich uns in der Wohnung.

Mit schnellen Schritten mache ich mich auf den Weg nach Hause.

"Messer im Angebot. Na Prinzesschen, kauf doch was." Ich schüttle den Kopf, murmle ein leises "Nein, danke" und gehe hastig weiter.

Zu Hause angekommen, laufe ich in den Eingang, einpaar Treppen hoch und schließe dann unsere etwas zu alte Tür auf. Hinter mir schließe ich die Tür und schließe sie ab.

Dad kommt mit einem Brett in der Hand zur Tür. "Hey Schatz." Er gibt mir einen Kuss auf die Wange. "Würdest du schnell den Hammer und die Nägel im Wohnzimmer holen?" Ich nicke und laufe in unser kleines, aber dennoch feines Wohnzimmer.

Mein Bruder schaut dort eine Kindersendung, sitzt auf der Couch und macht währenddessen Hausaufgaben. "Hey Luke." Flüstere ich.

"Joanna?"

Ich bleibe mit dem Hammer und den Nägeln in der Hand stehen und schaue zu Luke. "Hast du keine Angst?" Frägt dieser.

Ich zögere.

"Nein."

Ich möchte ihm gegenüber stark wirken. Ich möchte nicht, dass er Angst haben muss. Ich möchte, dass er weiß das ich keine Angst habe und ihn beschützen kann. Und nicht schwach bin.

Ich laufe zu Dad und reiche ihm die Nägel und den Hammer. "Hebst du das Brett?" Ich drücke meine Hände gegen das Brett, gegen die Tür. Dad haut so viele Nägel rein, wie nur möglich.

"Schließ die Fenster und mach die Rollläden hinunter. Gardinen zu ziehen!" Ich nicke und mache, was mir zu getragen.

Ich möchte gerade ein Fenster schließen, als ich draußen sehe, wie Türen zugenagelt werden und hilflose Menschen durch die Straßen jagen.

Ich blicke auf die Uhr.

17:56 Uhr.

In einer Stunde fängt die Purge-Nacht an. Dann gilt kein Zurückweichen.

Ich schließe schnell das Fenster, mache die Rollläden runter und ziehe die Gardinen zusammen.

Als auch das erledigt ist, gehe ich in die Küche und schaue was Dad kocht.

Nervös hält er eine Kartoffel in der Hand und legt sie mit zitternder Hand auf das Schneidebrett.

Ich erfasse seine Hand, welche gerade eine neue Kartoffel greifen möchte und sofort zusammen zuckt. Dad starrt mich an. "Ist okay. Ich mach das." Meine ich und setze ein schwaches Lächeln auf. Kurz überlegt Dad, doch nickt dann und setzt sich auf die Couch.

Ich nehme die Kartoffel und schäle sie zu Ende. Ich lasse sie kochen und mache währenddessen noch eine Soße dazu.

Stumm sitzen wir an dem kleinen, eckigen Tisch und essen unser Essen. "Ist fein." Kommt es von Luke woraufhin ich lächle. Dad kaut nur auf einzelnen Kartoffeln rum, legt ab und zu die Gabel weg und starrt zu oft auf den Fernseher, wo gerade Nachrichten laufen über die bevorstehende Purge-Nacht.

Ich schaue ihn besorgt an. "Dad." Keine Reaktion. "Dad." Sage ich nun etwas lauter, woraufhin er zu mir schaut. "Nur weil es Mum nicht geschafft hat, heißt es nicht, dass wir es auch nicht schaffen. Sie war damals draußen unterwegs und das alleine. Wir sind hier drinne und zwar zu dritt. Wir sind sicher." Hauche ich ihm zu, doch er nickt nur stumm. "Mir geht es gut." Behauptet er. Ich seufze tief.

"Ich geh in mein Zimmer." Luke steht auf und hopst in sein Zimmer.

Kurz schaue ich ihm hinterher, bevor ich mich an Dad wende. Er starrt verängstigt auf den Fernseher.

"Dies ist kein Test! Sobald die Sirenen ertönen, beginnt die diesjährige Purge. 12 Stunden sind Rettungskräfte nicht zu erreichen. Gesundes purgen!" Zeigt eine weiße Schrift auf blauem Hintergrund im Fernseh.

Kurz darauf ertönt die Sirene, was auch mich ungewollt zusammen zucken lässt.

Stille.

"Es beginnt. Geh zu Luke und komm nicht raus!" Befiehlt Dad. Ich nicke und gehe schnell in Luke's Zimmer, welcher angespannt auf seinem Bett sitzt, die Beine angezogen und die Arme drum rum geschlungen.

Ich schließe die Tür und setze mich neben ihn.

"Alles gut." Flüstere ich und nehme ihn in den Arm. "Eine sichere Nacht." Sind meine Worte, bevor wir in einen unruhigen Schlaf fallen.

The PurgeWhere stories live. Discover now