Teil 18 (überarbeitet)

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Liam

Noch immer eine Stunde bis mein Zug kommt. Genervt falte ich die Zeitung zusammen und lege sie neben mich auf die Parkbank, vor mir erstreckt sich der See im Stadtpark von Missoula, hinter mir befindet sich der Bahnhof, von dem aus ich in einer Stunde nach Rochester, Mineaplois aufbrechen werde. Und anstatt mich auf mein neues Leben zu konzentrieren, kann ich nur an mein altes denken. Ich lehne mich zurück und lege den Kopf in den Nacken. Durch meine Sonnenbrille erscheint der wolkenlose Himmel fast ein wenig, als würde ein Unwetter aufziehen. Obwohl ich mit dem Bus nur knapp dreißig Minuten von Glenwood nach Missoula gefahren bin, denke ich darüber nach, ob die wenigen Wolken, die über die Berge auf die Ranch zugekommen sind, sich verzogen haben und der Himmel dort jetzt so blau wie hier ist, oder ob noch mehr Wolken hinzugekommen sind. Ist Tessa schon wach und schaut jetzt genau wie ich in einen blauen Himmel, oder ist ihr Himmel grau? Hat sie meinen Brief schon gelesen? Ist sie wütend auf mich? Traurig? Oder denkt sie, dass es gut ist, dass ich nicht mehr da bin und endlich wieder Normalität in ihr Leben einzieht? Kann sie ihr Leben jetzt wieder so führen, wie es vorher war? Zwar mit gelegentlichen Besuchen von Mark, aber immerhin ohne grundlose Festnahmen und Prügeleien.

Etwas stößt gegen meinen Fuß, als ich hinsehe, liegt da ein Fußball. Sein kleiner Besitzer hebt den Ball auf, bevor ich es tun kann, dann sieht er mich misstrauisch an. Wenn ich einen Mann mit Sonnenbrille vor mir sitzen hätte, würde ich vielleicht auch so gucken, also nehme ich die Brille ab, die mich davor schützen sollte, erkannt zu werden, und schenke dem Jungen mit den dunkelbraunen großen Augen ein Lächeln. Ich kenne mich nicht aus mit Kindern, aber er kann kaum älter als fünf sein. Ein paar der Kinder in den Camps waren in seinem Alter, statt mit Bällen hat man ihnen den Umgang mit Waffen beigebracht, hat ihnen gezeigt, wie man Menschen tötet. Dieser Junge mit seinem Ball in den Händen wirkt fast unwirklich auf mich. Ich sehe mich nach seiner Mutter oder seinem Vater um, als ich einen Mann finde, der mich aus ein paar Schritten Entfernung beobachtet, nicke ich ihm zu.

»Joshua«, ruft er den Jungen, der sich darauf hastig umdreht und losrennt.

»Darf ich mich hinsetzen?«, will eine Frau mit dunkelblondem Haar wissen.

Ich nehme die Zeitung und mache ihr Platz. »Bitte.«

Sie setzt sich neben mich, dann mustert sie mich mit einem merkwürdig, nachdenklichen Lächeln und gerunzelter Stirn und ich versteife mich schon innerlich, denn offensichtlich hat sie mich erkannt. »Darf ich Sie etwas fragen?«, hakt sie vorsichtig nach.

»Ich bin es nicht«, komme ich ihr zuvor und will aufstehen, aber sie hält mich zurück, indem sie eine Hand auf meinen Unterarm legt.

»Du erkennst mich vielleicht nicht, das letzte Mal hast du mich vor nicht ganz 25 Jahren gesehen, damals war ich noch ein wenig schlanker«, sagt sie lächelnd.

Ich kneife die Augen zusammen und mustere ihr Gesicht, dann legt mein Gehirn über die Frau neben mir eine jüngere Version und jeder Muskel meines Körpers wird hart vor Anspannung. »Mrs. Trendt, Marks Mutter.« In meinen Ohren rauscht es, als mir klar wird, was das bedeutet, und ich weiß sekundenlang nicht, ob ich wütend oder erleichtert sein soll, sie zu sehen. Ein Teil von mir ist plötzlich wieder der Junge von zwölf Jahren, dem diese Frau Kekse gegeben hat, während sie zugleich Alkohol in sich reingesaugt hat, als wäre ihr Körper ein Vakuum. Sie hat uns von den Stimmen erzählt, die ihr Dinge über uns erzählen. Mark war ihr Verhalten damals peinlich gewesen, weswegen wir irgendwann gar nicht mehr zu ihm nach Hause gegangen sind.

»Ja, stimmt«, sagt sie. »Ich hab die Berichte über dich gesehen, tut mir leid, was du durchmachen musstest«, sagt sie und legt eine Hand auf meinen Oberschenkel, drückt ihn kurz und sieht mich dann wieder besorgt an. Um ihre Augen herum haben sich tiefe Falten in ihr Gesicht gegraben, sie trägt die Haare jetzt kürzer als früher, ihre Hände sind faltiger und das Haar dünner.

The Air we breatheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt