1. Kapitel

2.3K 137 7
                                    

Mit schnellen Schritten überquere ich die Straße vor dem Hauptgebäude von Clark-Enterprise, das zwischen zahlreichen anderen Betonriesen in den wolkenverhangenen Himmel von New York ragt.
Zwei Ordner auf dem einen Arm und mein Louis Vuitton Handtasche am anderen Handgelenk schiebe ich mich zwischen dem stockenden Verkehr durch auf die andere Straßenseite. Meine Mittagspause beläuft sich auf eine Stunde. Gerade genug Zeit um einmal bei meiner besten Freundin und Mitbewohnerin Pippa vorbeizuschauen. Sie hat ein kleines, elegantes Café direkt am Centralpark. Dort gibt es den besten Kuchen in ganz New York. Auf dem Bürgersteig schließe ich mich mit zügigen Schritten der Massen an Passanten an. Ausgerechnet jetzt klingelt mein Handy. Mit einer Hand versuche ich es beim Gehen aus meine Handtasche zu fischen. Der individuell eingestellte Klingelton „Sing" von Ed Sheeran sagt mit bereits, dass es meine ältere Schwester Victoria ist, die anruft. Ich bleibe stehen, um besser in meiner Tasche kramen zu können, werde aber prompt angerempelt. Ich beschleunige wieder meine Schritte, passe mich dem Tempo der anderen Fußgänger an. Tatsächlich bekommen meine Finger kurz darauf das Telefon zu packen und erleichtert ziehe ich es heraus.
„Vic!", begrüße ich sie, während ich mir das Smartphone ans Ohr presse. „Anna! Jesus! Das du mal dran gehst. Warum meldest du dich nie?", schimpft sie.
Im Hintergrund höre ich ihre kleine Tochter, meine Nichte April, schreien. „Schatz, schau deine Puppe liegt auf dem Sofa", höre ich Vickys gedämpfte, säuselnde Stimme. Damit verschafft sie mir einen kurzen Moment zum Nachdenken. Ich versuche mir eine passable Antwort zurecht zu legen, aber mir fällt nichts ein, was meine Schwester nicht direkt durchschauen würde.
„Tut mir leid", setze ich an, als sie wieder am Hörer ist, „ich habe einfach im Moment furchtbar viel zu tun."
„Genau wie Matthew und Noah, die es trotzdem beide schaffen mit mir zu telefonieren!", beschwert Vicky sich weiter, allerdings schon eine Spur sanfter.
„Ich weiß und es tut mir wirklich leid. Ich habe keine Ahnung wie ich es erklären kann."
„Sag bloß du versuchst immer noch die Lücke zu füllen?", fragt Vic ernst. Ihre Worte landen wie ein Pfeil in meinem Herzen.
Für einen winzigen Augenblick erscheint vor meinem inneren Auge die Comic Heldin Super-Anni, die ich als Kind erfunden habe und nun mit einem Pfeil im Herzen zwischen Papierstabeln, Schreibtischen und Computern in die Tiefe stürzt und schmerzvoll auf dem Pflasterboden aufschlägt.
Die Lücke oder auch Jeremy West.
„Nein, natürlich nicht. Über Jeremy bin ich längst hinweg", schwindle ich. Tatsächlich ist das Lückefüllen meine Intention hinter der vielen Arbeit. Meine Tage sind von morgens bis abends durchgeplant, damit ich bloß nicht in Versuchung gerate an Jeremy zu denken. Ich vermeide jegliche Verbindung zu ihm.
„Wann warst du das letzte Mal aus?", erkundigt sich Vicky.
„Freitag", lüge ich weiter, dabei habe ich keine Ahnung, wann es wirklich war.
„Gut. Hast du am Wochenende Zeit?", hoffnungsvoll trällert Vicky mir die Worte ins Ohr.
Ich bekomme ein schlechtes Gewissen, als ich sie einfach abwimmle. „Ich habe leider keine Zeit, Vic. Ich muss noch einen Bericht fertig schreiben, dann haben wir gerade mit einer neuen Werbekampagne begonnen, ich habe einen Friseurtermin und gehe danach zu Mackenzie's zur Maniküre."
„Und wann machst du mal eine Pause?"
„Du bist nicht meine Mutter, Vic!" Ungewollt hat meine Stimme an Schärfe gewonnen.
„Nein, das bin ich nicht", der fröhliche Klang ist aus Vickys Stimmer verschwunden und ich frage mich wie kaputt meine Familie eigentlich ist. Keiner von uns kommt doch wirklich mit dem Leben klar seit Mum und Dad tot sind. Außer vielleicht Matt, aber das liegt auch möglicherweise daran, dass er verheiratet ist und nicht, wie wir anderen allein lebt. Jeder von uns Geschwistern sucht doch Ersatz oder nicht?
Jace in Alkohol, Frauen und Schlägereien, ich in meiner Arbeit, Noah im Geldausgeben, Vicky in der Hingabe zu ihrer Tochter und Süßigkeiten, Gabriel in Zigaretten und Drogen und Alexander in sich selbst. „Dann bevormunde mich auch nicht. Ich komme schon klar!"
„Sicher. Ich komme mit zu Mackenzie's. Wann hast du den Termin?"
„16 Uhr. Treffen wir uns da?" Gebe ich nach.
Irgendwie freue ich mich meine Schwester zu sehen, aber ihre Fragen hasse ich trotzdem.
„Ja. Bis dann."
„Bis dann."
Meine Laune ist seit der Erwähnung unserer Eltern bis in den nächsten Ubahnschacht gesunken.

Kurz Zeit später drücke ich die Glastür zu dem kleinen Cafe auf.
„Anni", kreischt Pippa und kommt, mit einer Schürze um und den lila gefärbten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, um die Theke und auf mich zu gestürzt. „Warst du lange schon nicht mehr hier! Ich sehe dich ja nur noch, wenn du nach Hause kommst. Blass bist du. Du brauchst Zucker. Los Süße, setzt dich irgendwo hin, ich hole dir ein Stück Apfelstrudel. Der ist mir heute grandios gelungen. Du wirst ihn lieben. Einen Kaffee dazu?"
Ich blinzle von ihrem Redeschwall ein wenig überwältigt.
„Ach, Pip. Du bist ein Engel", strahle ich.
Sie zwinkert verschmitzt. „Ich weiß."
Noch immer vor mich hinlächelnd steuere ich einen Platz an dem großen, bis zum Bodenreichenden Fenster an. Von dort hat man gleichzeitig die Straße und den Park, sowie das Treiben im Café im Blick.
Ich hänge mein Cape über die Stuhllehne und platziere meine Ordner auf dem Tisch. Während Pippa hinter der Theke mit einer Mitarbeiterin spricht, entdecke ich zwei Männer, die sich mit großen Schritten der Konditorei nähern. Das darf doch nicht wahr sein. Das kann nicht wahr sein! Was macht er in New York? Mein Herz beginnt zu rasen und meine Hände werden schwitztig.
Und dann bemerke ich, dass sie genau auf die Eingangstür zuhalten.
Super-Anni gibt in meinem Kopf einen Hilfeschrei von sich, während ich mich nach einem Fluchtweg umsehe.
Pippa balanciert bereits eine dampfende Tasse und eine vollbeladenen Teller zu mir herüber. Die Mitarbeiterin nimmt für sie den Platz hinter der Theke ein. Ich sehe wie die Tür sich öffnet und Jeremy West hinter seinem Vater das Café betritt. In aller Hoffnung reiße ich die kleine Getränkekarte hoch und halte sie vor mein Gesicht. Super-Anni hat ihren Chamäleon-tarn-Anzug aktiviert.
Mich kann man allerdings leider noch sehen.
„Was machst du denn da?", fragt Pippa lachend und stellt klappernd das Geschirr auf dem Tisch ab. „Psscht!", zische ich, „Exfreund."
Pip dreht sich neugierig um. „Das Sahneschnittchen dahinten?" Aufgeregt lässt sie sich auf den zweiten Stuhl an meinem Tisch plumpsen.
„Sieht er mich?", flüstere ich.
„Sie haben sich an einen Tisch gesetzt und unterhalten sich. Er bemerkt dich nicht. Allerdings ist deine Tarnung echt mies", bemerkt Pippa trocken.
Resigniert lasse ich die Karte sinken und sehe verstohlen zu Jeremy hinüber. Seine honigblonden Haare trägt er im Gegensatz zu früher in einem ordentlichen, aber jugendlichen Haarschnitt. Ich bin sicher, dass seine Augen dagegen gleichgeblieben sind. Mit Sicherheit haben sie noch immer diese ungewöhnliche Blässe. Insgesamt sieht er erwachsener und reifer aus und das macht ihn leider noch attraktiver. Als hätte er meinen Blick gespürt hebt er den Kopf und sieht in meine Richtung. Für einen Moment ziehen sich seine Brauen zusammen, dann weiten sich seine Augen und ich kann mir ein selbstgefälliges Lächeln nicht verkneifen.
Auch er hat mich erkannt und nicht anders als er habe ich mich ebenfalls positiv verändert. Meine Haare sind länger und zu eleganten Wellen frisiert, mein Körper hat sich gestreckt und weibliche Kurven bekommen. Generell habe ich abgenommen, wodurch meine Gesichtszüge besser zur Geltung kommen. Die hohen Wangenknochen, die großen Augen und die geschwungenen Lippen. Ich bin hübsch. Und das weiß ich. Und Jeremy weiß das auch! Mehrere endlose Sekunden verstreichen, während wir uns ansehen. Dann zwinkert er. Mein Herz setzt aus und schlägt dann doppelt so schnell weiter.
Super-Anni hat rote Herzchen in den Augen und blinzelt verzückt zurück.
Ich verziehe spöttisch meinen Mund, was ich mir bei meinem Bruder Jace abgeguckt habe, werfe in einer arroganten Geste meine Haare über die Schulter und wende den Blick ab. Pippa sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich hebe die Kaffeetasse vor meinen Mund.
„Wie hat er reagiert?", frage ich.
Pip sieht grinsend zu Jeremy hinüber. „Er sieht dich noch immer an. Ich glaube du hast ihn umgehauen."
Mit funkelnden Augen sieht sie wieder zu mir. „Ihr würdet wahnsinnig gut zueinander passen", schwärmt sie.
Bei ihren Worten verschlucke ich mich fast an meinem Kaffee. Klappernd stelle ich die Tasse ein bisschen zu fest auf die Untertasse. „Oh nein. Überhaupt nicht. Er ist ein Arsch", wäre ich ab.
„Ein sehr, sehr heißer Arsch", erinnert Pip mich. Und wo sie recht hat, hat sie recht.

AnnabelleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt