6. Friede?

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Christine

Als ich aufwachte fühlte ich mich sichtlich besser. Die Geschehnisse von gestern schwirrten mir immer noch in meinem Kopf herum. Als ich gerade aufstehen wollte, bemerkte ich, dass irgendetwas auf meinem Schoß lag und es war tatsächlich Erik's Kopf. Ich musste etwas grinsen.
Er ist wirklich so lange bei mir geblieben, bis ich eingeschlafen bin, dachte ich. Indem ich mich vorsichtig bewegte, weckte ich Erik auf und ich zuckte etwas zusammen, als ich sah, dass er seine Maske nicht auf hatte.
Ach, jetzt stell dich nicht so an! Du kennst sein Gesicht doch bereits, redete ich mir ein.
"Guten Morgen, Christine."
"Guten Morgen, Erik."
"Wie spät ist es?"
"Halb zehn."
Plötzlich saß er senkrecht und sein Blick zeugte von Erstaunen.
"So spät schon?"
"Ist alles in Ordnung? Hattest du eigentlich etwas vor, oder weshalb wirkst du so... erschrocken?"
Mit einem leichten Grinsen schaute er mich an.
"Es ist nur... Ich habe seit langem mal wieder vernünftig geschlafen."
"Achso..."
Ich wurde etwas rot im Gesicht, denn ich wusste genau, dass er so gut schlafen konnte, weil ich bei ihm gewesen war. Um aus diesem Schweigen auszubrechen beschloss ich, das Frühstück vorzubereiten.
"Was hältst du davon, wenn ich das Frühstück vorbereite?"
Er schaute mich mit einem skeptischen Blick an.
"Du solltest lieber noch nicht aufstehen, meine Liebe. Dein Fuß ist noch nicht wieder vollständig genesen."
Ich wusste ja seine Fürsorge zu schätzen, aber ich hasste es, nutzlos zu sein und nichts tun zu können.
"Ich möchte es aber. Ich ertrage es nicht länger hier nur zu liegen und von dir umsorgt zu werden, ohne selbst etwas zu tun."
Einen Moment lang schwieg er, bis er schließlich nickte und mir half aufzustehen.
"Sobald dir aber irgendetwas weh tut, sag sofort Bescheid!"
"Ja, keine Sorge."
In einem ziemlich langsamen Tempo humpelte ich in die Küche. Ich fühlte mich wie ein Bauerntrampel. Ich war alles andere als das grazile Mädchen, das ich einst war.
Nichtsdestotrotz machte ich mich daran, dass Frühstück vorzubereiten. Da ich in meiner Fortbewegung etwas eingeschränkt war, brauchte ich fast eine halbe Stunde.
"Erik, das Frühstück ist fertig!"
"Ich komme!"
Erik kam in die Küche und diesmal hatte er seine Maske auf, was mich etwas überraschte. Als er sah, wie rot ich im Gesicht war, da es doch anstrengender war als gedacht, schob er den Stuhl zurück und bat mich somit, Platz zu nehmen. Ich konnte nicht umhin als einen Seufzer auszustoßen. Gerade als ich mit dem Essen beginnen wollte, ergriff Erik das Wort.
"Ich bitte um Verzeihung, dass ich vorhin meine Maske nicht getragen habe. Du solltest mein Gesicht nie wieder sehen müssen."
Diese Worte überraschten mich sichtlich. Ich kannte sein Gesicht ja bereits und empfand mittlerweile weder Abscheu, noch Ekel vor seinem deformierten Gesicht.
"Du brauchst dich nicht entschuldigen, Erik. Ich kenne dein Gesicht bereits und ich habe keine Angst mehr. Und da wir jetzt sowieso eine Zeit lang zusammen leben werden, kannst du deine Maske ruhig weg lassen."
Erik starrte mich an, als käme ich nicht von dieser Welt. Es lag so viel Freude in seinem Blick, dass ich ebenfalls begann zu lächeln.
Während wir aßen, warf Erik mir zwischendurch immer wieder einen Blick zu. Er wirkte nun viel entspannter und ausgeglichener als jemals zuvor. Man konnte ihn mit einfachen Worten so glücklich machen, was für einige Menschen selbstverständlich ist.

Nach dem Frühstück erklärte Erik, wolle er neue Kräuter holen, um die Heilung meines Fußes zu beschleunigen.
"Ich mache mich nun auf den Weg. Bitte tu mir den Gefallen und bewege dich nicht allzu viel. Ich werde nicht sehr lange brauchen. Auf Wiedersehen."
"Bis später."
Sobald er aus der Tür raus war, war ich erstaunt über mich selbst. Wenn ich bedenke, dass ich Erik vor wenigen Wochen noch Hass gegenüber empfand und nun so etwas wie Friede zwischen uns entanden war, war das eine beachtliche Entwicklung. Dennoch, fragte ich mich, was in naher Zukunft wohl passieren würde. Er wollte mich heiraten, das hatte er gesagt. Und wenn ich daran denke, regt sich ein ungutes Gefühl in mir, da ich teilweise noch vor seiner Berührung zurückschrecke. Und selbst wenn wir nun einigermaßen miteinander auskommen, hat er versucht Raoul zu töten. Raoul... Wie es ihm wohl gehen mochte? Er hatte die Suche nach mir bestimmt schon aufgeben. Vielleicht dachte er ja noch hin und wieder an mich. Ach, wie naiv bin ich eigentlich? Er hat mich bestimmt schon längst vergessen.
Ich schüttelte unaufhörlich meinen Kopf. Ich machte mir einfach viel zu viele Gedanken und musste mich irgendwie ablenken. Und am besten wäre dafür die Welt der Literatur geeignet. Als ich jedoch das Bücherregal betrachtete, musste ich mit Ernüchterung feststellen, dass ich fast jedes Buch schon einmal durchgelesen hatte. Das Einzige, was mir sonst noch half auf andere Gedanken zu kommen, war die Musik. Da hier aber keine Partituren waren und es nur einen anderen Raum gab, wo welche lagen, musste ich trotz Erik's Bitte aufstehen.
Als ich vor seinem Zimmer stand zögerte ich, denn ich hatte Angst, diesen Raum erneut zu betreten. Nichtsdestotrotz drückte ich die Türklinke hinunter und betrat den Raum. Ein ganz schönes Durcheinander herrschte hier. Aber das war typisch für Erik. Er hatte zwar trotzdem ein gewisses System, sodass er alles irgendwie wieder fand, aber ich konnte dieses System nicht erkennen. Gerade als ich eine Partitur gefunden hatte und den Raum wieder verlassen wollte, sah ich den Sarg, der Erik's Bett darstellte. Es ließ mich immer wieder in meinen Adern gefrieren, wenn ich den Sarg sah.
Um diesen Anblick nicht länger ertragen zu müssen verließ ich den Raum und ging zurück in's Wohnzimmer, wo ich mir die Partitur erstmal durchlas und mit Staunen feststellen musste, dass er die vorliegende Arie für mich geschrieben hatte. Er schrieb also immernoch für mich.
Leise summte ich ein paar Töne. Diese Arie war wunderschön. Sie steckte voller Emotionen. Voller Liebe. Ich begann die ersten vier Zeilen zu singen und war dabei offensichtlich so laut, dass ich nicht bemerkte, dass Erik zurückgekehrt war. Mit einem Mal hielt ich inne und betrachtete ihn mit vor Schreck geweiteten Augen.
Da ich seinen Blick nicht deuten konnte, versuchte ich ihn ersteinmal zu beschwichtigen.
"E... Es tut mir so leid, Erik! Ich weiß, ich hätte nicht einfach in dein Zimmer gehen dürfen, aber..."
"Ist schon in Ordnung, meine Liebe."
Ich war erleichtert und überrascht, denn normalerweise mochte Erik es nicht, wenn man ungefragt sein Zimmer betrat. Er gab mir immer wieder Rätsel auf.
Er war das Einzige große Mysterium, welches ich wohl niemals vollends würde begreifen können.

Ein Leben In DunkelheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt